News

Schweizer KZ-Häftlinge –
Vergessene Opfer des Dritten Reiches

Schweizer KZ-Häftlinge

Nur wenigen Historikern und Politikern ist bekannt, dass während des Dritten Reichs Hunderte von Schweizerinnen und Schweizern in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Viele von ihnen wurden dort umgebracht oder starben später an den erlittenen Misshandlungen und Entbehrungen. Unter den Opfern waren Männer, Frauen und Kinder, Juden, Sozialisten, Homosexuelle, Sinti, Roma, Zeugen Jehovas und Widerstandskämpfer. Die damaligen Schweizer Behörden hätten Viele vor dem Tod bewahren können. Sie taten es nicht oder nur ausnahmsweise.

Inhalt der Studie:
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs arbeiteten die Autoren erstmals die Geschichte der Schweizer KZ-Häftlinge auf. Basierend auf Akten, Briefen, historischen Dokumenten und Gesprächen mit Angehörigen sind zudem elf Porträts von ehemaligen KZ-Häftlingen entstanden. Sie stehen stellvertretend für die vielen Schweizer Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, die in diesem Buch erstmals in einer Liste namentlich aufgeführt sind. Vier Jahre ausgiebiger Recherchen in zahlreichen Archiven, Sichtung einer grossen Zahl von Dossiers, Dokumenten und Datenbanken, Gesprächen mit Nachkommen und Verwandten der ehemaligen Häftlinge und weiterer Nachforschungen brauchte es dafür. Alle Festgenommenen wurden in Deutschland selbst oder in von den Nazis besetzten Staaten verhaftet und in ein KZ deportiert. Auch Kinder bleiben nicht verschont. Das Autorenteam konnte mindestens 391 Menschen nachweisen, die bei der Verhaftung oder zu einem früheren Zeitpunkt die Schweizer Staatsbürgerschaft besassen. Mindestens 201 Frauen und Männer starben. Hinzu kommen mindestens 328 KZ-Häftlinge, die in der Schweiz geboren waren, zumeist hier aufwuchsen, jedoch nie eingebürgert worden waren. Von diesen überlebten 245 Menschen den KZ-Terror nicht.

Freilassungen wären möglich gewesen
Die offizielle Schweiz hätte durchaus mehr unternehmen können, um die Inhaftierten freizubekommen. Doch sie setzte sich nur in Einzelfällen für ihre dem Tod ausgelieferten Bürgerinnen und Bürger ein, obwohl solche Möglichkeiten durchaus bestanden hätten. Vielmehr wurden ihnen die Abstammung, ihr Engagement gegen den Faschismus, das abweichende politische Bekenntnis zu ihren Ungunsten ausgelegt oder sogar als Selbstverschulden eingestuft. Die mörderische Justiz der Nazis aber weder hinterfragt noch kritisiert. Aus heutiger Sicht ein beschämendes Verhalten.

Halbherzige Wiedergutmachung
Wenige Wochen nach Kriegsende meldeten sich die ersten Schweizer KZ-Überlebenden in Bern. Sehr viele waren entkräftet, schwer krank und mittellos. Weil der damalige Bundesrat gegen aussen weiter an seiner absurden Behauptung festhielt, während des Krieges alles Mögliche unternommen zu haben, um die Landsleute im Ausland zu schützen, verliefen die Massnahmen für Entschädigungszahlungen nur halbherzig und kleinlich.

Bis heute keine Rehabilitation
Damit die damalige Politiklüge nicht offenbar wird, hat die offizielle Schweiz dazu 75 Jahre geschwiegen und nichts unternommen. Und bis heute scheuten sich die Behörden davor, zuzugeben, dass es eine feige Politelite war, welche damals eine verabscheuungswürdige und hässliche Politik praktizierte. Eine klare Stellungnahme gegenüber der damaligen Praxis wäre längst überfällig. Hat man doch damals wissentlich eigene Staatsbürger, statt zu schützen, direkt der Vernichtungsmaschinerie der Nazis ausgeliefert.

Heuchelei und Wegschauen
Während den vergangenen siebeneinhalb Jahrzehnten wurde weiter gegenüber allen andern Nationen die Mär der humanitären Tradition des Landes zelebriert. Dieses Dokument beweist jedoch, dass die offizielle Schweiz bis heute nicht das Menschenrechtsniveau erreicht hat, dessen sie sich rühmt. Es wird weiter weggeschwiegen. Dafür aber schämt sich leider kaum jemand. Um Mitgefühl zu heucheln, war jedoch eine Delegation zum 75. Gedenktag in Auschwitz. Kein historisches Bewusstsein, moralisch korrupt, seelisch dement? Ein weiteres Beispiel für eine moralisch-ethische Abkoppelung. Weiter so?

Text: Walter Zwahlen


Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reiches
Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid, NZZ libro, 2020

Emma Kübler-Schlotterer (oben) und ihr Leidensweg (unten). Überlebende: Albert Mülli (oben) und Nelly Hug (unten).