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Neue Publikation: Geprägt fürs Leben

Marco Leuenberger und Loretta Seglias

Nach den bereits vorhandenen beiden Titeln Versorgt und vergessen 2008 und Die Behörde versorgt zum Wohl des Kindes 2011, Forschungsprojekte des Schweizerischen Nationalfonds zum Thema Verdingkinder/Fremdplatzierung, ist nun Geprägt fürs Leben 2015 ebenfalls im Druck erschienen. Es sind drei Einzelprojekte, die thematisch eng verknüpft sind. Verantwortlich dafür zeichnen wiederum die HistorikerInnen Marco Leuenberger und Loretta Seglias, welche mit diesem Werk nach jahrelanger, aufwendiger Forschungsarbeit zugleich ihre Dissertation zum Doktortitel publizieren konnten.

Rezension:
In der Schweiz wurden Hunderttausende von Kindern und Jugendlichen in den beiden letzten Jahrhunderten «fremdplatziert» und «verdingt». Die Mehrheit wuchs nicht bei den leiblichen Eltern auf, sondern in der Regel gegen ihren Willen bei ländlichen Pflegeeltern und – seltener – in Anstalten, wo sie vor allem streng arbeiten mussten. Die häufigsten Gründe der Fremdplatzierung waren Armut, Krankheit, Tod der Eltern oder eines Elternteils. Statt die Armut wirkungsvoll zu beseitigen, führte die Fremdplatzierung zu unsäglichem Leid auf dem Buckel der Kinder. Die ausgewählten Interviews mit Betroffenen der Jahrgänge 1930-1948 zeigen eindrücklich eine oft schreckliche Realität der Massnahmen. Die beiden AutorInnen haben eine umfangreiche Bibliografie der vorhandenen Literatur im europäischen Raum erarbeitet und in ihrer Studie gerade auch die länderübergreifende Sicht der Thematik dokumentiert, welche in diesem Umfang bisher fehlte.

Das Buch gibt erstens die Sicht der Lebensrealität von sieben Fremdplatzierten aus den Kantonen Bern, Luzern und Solothurn wieder, welche die Autoren interviewt hatten. Weiter zeigen Loretta und Marco im Detail auf, wie sich der rechtliche Rahmen im 20. Jahrhundert wandelte und welche Folgen die Wechselwirkungen zwischen «den Individuen und den sie umgebenden Strukturen» auf die Betroffenen hatten. Die Interviewten wissen teilweise bis heute nicht, weshalb sie ihre Eltern verlassen und mehrmals den Pflegeort wechseln mussten. Ihre Erinnerungen zeigen die Kälte und Härte einer seelisch und materiell grausamen Kindheit, die sie nur mit Glück und Durchhaltewillen überstanden haben. Einzelne ihrer Geschwister zerbrachen an der schrecklichen Realität, starben oder begingen Suizid. Mitschuldig daran sind auch die Behörden, die in ihrer Aufsichtsfunktion versagten, deshalb sowohl Kindswohl wie Kinderschutz auf der Strecke blieben. Im Vordergrund standen fast ausschliesslich finanzielle Überlegungen und ein rigides Klassensystem. Die objektiven Voraussetzungen und Begabungen oder die Wünsche der Fremdplatzierten zählten nicht.

Das umfangreiche Zahlenmaterial am Ende des Werks gibt auch Aufschluss über die sehr unterschiedlichen finanziellen Leistungen und Lücken der Systeme. Ein mutiges und wichtiges Werk zu dieser Thematik, von dem auch die anderen europäischen Wissenschafter profitieren können. Weiter zeigt sich an dieser Arbeit ganz deutlich, wie gross der Forschungsbedarf punkto zwangsweiser Fremdplatzierung noch ist. Wir hoffen, dass dadurch das Projekt/Konzept der umfassenden Aufarbeitung der Sozialgeschichte der Schweiz, das dem Gesamtbundesrat vorliegt, beflügelt, finanziert und rasch in Angriff genommen wird.

Text Walter Zwahlen

Cover
Geprägt fürs Leben, Marco Leuenberger/Loretta Seglias, Chronos Verlag, 2015