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Texte:

Die Zeit war gekommen.
Die Stunde der Wahrheit.
Was nützt denn die Wahrheit,
wenn sie denen,
die gelitten haben,
nicht ein wenig Glück schenken kann?


Aus Aldebaran von Jean-Claude Izzo, Unions Verlag

Worum es auch geht

Mit der offiziellen Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der Schweizer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte tun sich Bund und einige der betroffenen Kantone leider immer noch schwer. Die posthume Würdigung und Rehabilitierung der vielen Opfer wäre ein längst fälliger Schritt, damit die einst gequälten Seelen endlich Frieden finden können.

Das Schweigen brechen

Die Jahrhunderte währende schlechte Praxis, Verdingkinder in der Landwirtschaft zu beschäftigen, ist eine weitgehend verschwiegene Tatsache. Mit Billigung der Obrigkeit und häufig auf deren Initiative wurden wehrlose Kinder ihren Eltern und Geschwistern entrissen und als Pflegekinder an dafür ungeeignete Bauersleute verdingt. Nur eine Minderheit fand menschenwürdige Verhältnisse vor. Demütigung, Prügel, Gewalt und Hunger prägten den Alltag. Sexuelle Übergriffe, ja sogar Mord und Totschlag blieben in der Regel ungeahndet. Zehntausende verbrachten unter solchen Lebensbedingungen eine erbärmliche, hoffnungslose Kindheit als Arbeitssklaven. Kaum jemand gewährte ihnen Schutz oder Hilfe.

Gotthelf war der Erste und blieb lange Zeit einer der Wenigen, welcher seine Stimme gegen diesen Missbrauch erhob. Er rügte die Gemeinwesen, welche diesem Treiben weiter tatenlos zusahen oder es sogar aktiv förderten. Der Journalist und Schriftsteller C.A. Loosli führte diesen Kampf weiter. Und der Verein netzwerk-verdingt führt ihn fort.

Vorteile der Unwissenheit

Nichtwissen
tut niemand weh
mit Ausnahme derer
denen wehgetan werden kann
weil niemand es weiss

Aus Erich Frieds Gedichtband, Lebensschatten, Wagenbach Verlag, 2001

Trüber Nachbar

Es liegt schon da wie ein anderes Haus, doch dringt den ganzen Tag hinaus das Schreien armer Kinder. Die Kinder der “bessern” Leute sind geschwind beim Ohrläppchen gefasst, geschwind, die der Armen noch zweimal geschwinder. O dass zu Not und Mangel muss auch noch Gehässigkeit setzen den Fuss, auch dass der Hass zuvor sich alle Armen zum Opfer erkor. Es liegt schon da wie ein anderes Haus, doch dringt den ganzen Tag hinaus das Weinen armer Kinder.

Robert Walser, Die Gedichte, Suhrkamp Verlag, 1986
(erstmals veröffentlicht im Mai 1898 im Sonntagsblatt des Berner Bund)

Der verzweifelte Ruf eines Verdingbuben

Mein Gott, warum bin ich so einsam auf dieser Welt?
Warum habe ich keine Mutter, die mich in die Arme nimmt, die mich tröstet, wenn ich traurig bin?
Wo ist mein Vater, der mir meine Fragen beantwortet, der mir zur Seite steht, der mir das Leben erklärt?
Warum bin ich ein Niemand, nur minderwertig bei meinen Schulkameraden und bei allen Leuten, die mich kennen?
Warum muss ich abends hungrig schlafen gehen?
Warum sind meine Holzschuhe zu klein, tun weh und haben Löcher?
Warum sind die einzigen Wesen auf der Welt, denen ich meine Sorgen erzählen kann, die Kühe im Stall? Verstehen sie mich? Verstehen sie meine verzweifelten Rufe?
Warum bin ich auf dieser Welt? Wäre ich vielleicht besser tot?
Was habe ich getan, um ein solches Leid verdient zu haben?
Heute ist Weihnachten. Im Schulhaus beginnt die Weihnachtsfeier; der Baum ist so schön dekoriert mit vielen Kerzen. Man singt und predigt von Liebe und Frieden auf dieser Erde... warum bin ich traurig und verlassen?
Niemand will oder kann verstehen, was ich fühle, wie mir zu Mute ist, was in mir vorgeht.
Ich bin eifersüchtig auf meine Kameraden, die eine fröhliche Weihnacht mit Vater und Mutter, mit den Geschwistern feiern und die schöne Geschenke erhalten.
Ja – meine Last, mein Los sind fast nicht ertragbar, aber es gibt keine Lösung für mich, ich bin eben ein Verdingbub. Trotz allem darf ich meinen Glauben nicht verlieren.
Zeig es ihnen, du Verdingbub – du bist auch jemand! Mut und Vertrauen in dich selbst werden dir helfen!

Aus dem Buch „Zivilstand ungenügend?“ von Jakob J. Krähenbühl, Verlag Druckerei Schürch AG, 4950 Huttwil, 2006