Zeitzeugen

 
Walter Bläuenstein

Ich wurde am 25. November 1941 im Mütter- und Säuglingsheim Inselhof in Zürich geboren. Meine Eltern habe ich nie kennen gelernt. Der Name meines leiblichen Vaters ist in keinem amtlichen Dokument bezeugt. Im Inselhof blieb ich bis am 3. April 1943. Erst mit 20 Jahren habe ich meine Vormundschaftsakten verlangt, als ich durch die Volljährigkeit aus dieser entlassen worden war. Da erfuhr ich erstmals, dass es noch einen 7 Jahre älteren Bruder gab.

Fremdplatziert
Vom Frühling 1943 bis Ende Januar 1944 war ich an zwei verschiedenen Pflegeplätzen im Kanton Zürich untergebracht, zuerst in Walzikon, dann in Zumikon. Das Kostgeld betrug damals Fr. 45.- pro Monat.

Die Mutter
Meine Mutter arbeitete zuerst in der Kinderkrippe an der Zollikerstrasse, später bei einer Familie Atteslander an der Kreuzbühlstrasse, welche Tennisplätze betrieb. Ihre letzte Stelle hatte sie in der Klinik Hirslanden. Diese kündigte sie jedoch am 15. März 1945, weil meine Grossmutter in Rougemont krank wurde, und sie diese pflegen wollte. Meine Mutter hatte vor, nachher wieder an ihre Arbeitsstelle zurückzukehren, verstarb aber am 5. April 1945 im Spital in Saanen, als ich erst 3 ½ Jahre alt war. Somit wurde ich zum Vollwaisen erklärt.

Wieder im Heim
Weil ich schwächlich und rachitisch war, kam ich anfang Februar 1944 ins Kinderheim des Kinderspitals Brugg. Konkrete Erinnerungen habe ich erst ab dem Alter von sieben Jahren.

Verdingt
Kurz vor Schulbeginn wurde ich durch eine Krankenschwester vom Kinderspital in Brugg auf den Bauernbetrieb ihres Schwagers in Schmidrued vermittelt. Die Familie hatte zwei ältere Töchter. Für alle war ich nur der Bub. Für alles und jedes gab man mir die Schuld. Dazu wurde ich viel und heftig gestraft, die Striemen davon waren jeweils am Körper zu sehen. Am Essen wurde gespart, es war meistens zu knapp und qualitativ sehr unterschiedlich. Der Beck, der Käser und der Metzger kannten die Verhältnisse und gaben mir ab und zu im Versteckten Brot, Käse oder eine Wurst, meine Pflegeeltern durften davon nichts wissen. Vor dem Schulbeginn zwischen 6 und 7 Uhr morgens musste ich grasen helfen und im Stall misten. Die Schulaufgaben konnte ich auf dem Hof nur teilweise machen, die Arbeit hatte immer Vorrang.

In der Schule wurde ich deswegen nicht schikaniert. Aber es hatte neben mir noch weitere Verdingbuben in Klasse, und als solche waren wir ausgegrenzt. Der Lehrer verfuhr mit uns unterschiedlich streng, und je nach Laune setzte es Prügel mit dem Haselstecken.

Zu meinen Pflichten auf dem Hof gehörte auch, die Milch zwei Mal täglich mit dem Anhänger in die Käserei zu bringen. An Weihnachten bekam ich jeweils Arbeitskleider geschenkt. Wie ich später herausfand, waren diese jedoch der Fürsorge verrechnet worden. Mein Amtsvormund kam etwa jedes zweite Jahr auf den Hof, wurde dann jeweils fein bewirtet und von den Verdingeltern eingeseift.

Knecht
Nach der Schulzeit blieb ich bis ich 17 Jahre alt war weiter als Knecht auf dem gleichen Hof, natürlich ohne Lohn. Erst mit 20 Jahren, habe ich meine Vormundschaftsakten verlangt, als ich durch die Volljährigkeit aus dieser entlassen worden war. Da erfuhr ich erstmals, dass es noch einen 7 Jahre älteren Bruder gab.

Zimmermannslehre
Immerhin hat er sich dafür eingesetzt, dass ich eine dreijährige Lehre als Zimmermann in Schöftland machen konnte. Eigentlich häatte ich lieber eine Lehre als Holzschnitzer gemacht. Auf individuelle Berufswünsche ging man aber damals nicht ein. In der Zimmermannslehre ging es mir etwas besser. Das Arbeitsklima war zwar rauh, aber ich hatte doch einen kleinen Lohn. Die erste Zeit hatte ich in Schöftland Essen und Zimmer in einer kleinen Privatpension. Dann musste ich auf Geheiss des Vormund zurück auf den Bauernhof, um in meiner Freizeit weiter als Knecht gratis dort zu dienen. Nach der Lehre blieb ich noch 3-4 Jahre als Arbeiter in der Zimmerei, hatte dann aber wieder ein privates Zimmer.

Stellenwechsel
Als eine Stelle in der Sägerei in Schmidrued frei wurde, griff ich zu. Dort wurde ich dann nach einer Zeit sogar Vorarbeiter. Von einem Untergebenen wurde ich gemobbt, und so bewarb ich mich auf eine ausgeschriebene Stelle beim Kantonalen Vermessungsamt. Meine Aufgabe bestand darin, die schweren Marchsteine genau nach dem Plan des Geometers zu platzieren. Dann wechselte ich zum Polizeikommando des Kantons in eine Bürostelle. Ich hatte aufgrund der Unfallrapporte die Schadensmeldung und Verrechnung an die Versicherungen zu erledigen. Da ich schon einige Zeit an Übelkeit und Schwindel litt, wurde eine 50 prozentige IV Rente attestiert, und mit 50 Jahren die volle.

Ein eigenes Haus
In Schmidrued habe ich ein Stück Land von einem Bauern kaufen können und mir darauf ein eigenes Haus gebaut. Da ich viel Eigenleistung hineinsteckte, das Projekt selber plante und zeichnete, bekam ich von der örtlichen Bank ohne weiteres eine Hypothek. In diesem Haus blieb ich etwa acht Jahre, dann verkaufte ich es. Obwohl mir einige im Dorf wohlgesinnt waren, gab es auch Neider und ich sah ein, dass der Ort, wo ich Verdingbub gewesen, nicht der geeignete für meinen weiteren Lebensweg war.

Wegzug
Weil ich im Bernbiet Bekannte hatte, zog ich zuerst nach Rüfenacht und 3 Jahre später nach Bern, wo ich immer noch wohne.

Aktiver Turner
Bereits während der Lehre machte ich begeistert im örtlichen Turnverein mit, wo ich von den Kameraden gut aufgenommen wurde. Ich engagierte mich im Vorstand, war Aktuar und Materialverwalter. Später wurde ich Nationalturner und über Jahre war ich als Kursleiter aktiv.

Text aufgrund des Interviews vom 17.11.2009 und den zeitweilig überlassenen Akten und der Akteneinsicht bei der Fürsorge der Stadt Zürich vom 4.2.2010.

Walter Zwahlen

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Gebäude des Inselhofs in Zürich Riesbach.











Porträt von Walter Bläuenstein in der Schweizer Familie 3/2011. Download PDF