Zeitzeugen

 
Samuel Stalder

Geboren wurde ich am Ende des Brandseitengrabens im Emmental. Damit schlug meines Schicksal Stunde. Es war ein kleiner Bauernbetrieb, im Stall gab es nur Platz für drei Kühe, ein Kalb und eine Sau. Wir hielten noch einige Hühner. Der Hof lag an einem steilen Hang mit viel Wald. Geld war immer mehr als knapp. Mein Vater musste noch auswärts Geld verdienen, das Bauern war nur Nebenbeschäftigung. Das bedeutete nach der Arbeit keinesfalls Feierabend. Stets, wenn es ums Bezahlen der Rechnungen ging, gab es Streit. Die Mutter war böse mit uns Kindern und hat uns oft verdroschen. Aber eines Tages gab es eine Wende.

Gemäss Akten war ich sieben Monate alt, als fremde Leute auf den Hof kamen und diesem Geschehen ein Ende bereiteten. Mich fand man in einem Blechzuber zwischen schmutzigen Kleidern. Man nahm uns den Eltern weg. Was mit meiner älteren Schwester und dem Bruder geschah, weiss ich nicht. Gesehen habe ich sie später nur selten. Mein Vater hatte zu dieser Fremdplatzierung nichts zu melden. Die Mutter befahl, und er musste sich fügen, dass wir abgeholt wurden. Vielleicht hatten wir die Hoffnung, es werde besser. Ich kam zu Pflegeeltern. Wiederum auf einen kleinen Bauernhof. Es gab drei Kühe, Mastkälber, eine Sau, Hühner, Katzen und einen Hund. Die Pflegemutter war eine Halbschwester meines Vaters. Der Pflegevater halb Franzose und halb Schweizer. An diesem Ort war wiederum nie genug Geld vorhanden. Auch der Pflegevater musste tagsüber in einer Giesserei als Gussputzer arbeiten. Das Bauern geschah vor und nach der Fabrikarbeit.

Es gab aber keinen Tag, an dem die Pflegemutter nicht weinte. Die Diskussion zwischen den beiden Eheleuten drehte sich immer um den Zweiten Weltkrieg. Was es im Krieg alles nicht gab, und wie man es damals gemacht hatte. Immer vor Weihnachten wurde ein Schwein geschlachtet. Ich musste beim Schlachten zuschauen, obwohl ich lieber weggelaufen wäre. Während der Heuernte musste ich oft Laufbursche spielen, irgend etwas auf dem Hof holen, das gerade benötigt wurde. Beide Wege sollte ich rennen, wehe ich brauchte zu lange, dann gab es Schläge mit dem Ledergurt. Auch wenn sonst etwas schief ging, wurde ich bestraft.

Irgendwann begann auch für mich die Schule. Die Zeit für den Schulweg gab man mir vor. Kam ich zu spät, riskierte ich Prügel. Nach einigen Monaten äusserte die Lehrerin den Verdacht, etwas stimme nicht mit mir. Sie kam zu uns nach Hause für ein Elterngespräch. Mein Pflegevater maulte, man müsse ihm nicht beibringen wollen, wie man ein Kind zu erziehen habe. Ich solle froh sein, dass ich ein Dach über dem Kopf und genug zu essen habe. Die Lehrerin sah ein, dass sie so nichts ausrichten konnte, meldete sie die Sache weiter, damit eine Amtsstelle sich einschalte. Wir mussten beim Jugendamt erscheinen, welche mich dann nach Aarwangen ins Knabenheim überwies.

Alles war fremd für mich, nur noch Buben um mich. Acht Jahre und acht Monate sollte dies nun für mich zur festen Bleibe werden. Wer meint, diese Form der Fremdplatzierung sei eine gute Lösung, hat noch nie wirklich ein Heim von innen gesehen. Zum Heim gehörte ein grosser Bauernbetrieb, das bedeute für uns stets strenge landwirtschaftliche Mitarbeit im Stall, auf dem Feld und der Gärtnerei. Vor, nach und neben der Schule. Auch für Arbeiten in der Schreinerei wurden wir beigezogen. Die Arbeit mit den Pferden wurde für mich zur Lieblingsbeschäftigung. Im selben Jahr, in dem ich konfirmiert werden sollte, starb mein leiblicher Vater, den ich in all diesen Jahren nur selten gesehen hatte. Ein Jahr später kam mein Bruder bei einem Mopedunfall ums Leben. Auch wir waren uns nur selten begegnet. Nach dem Schulaustritt kam ich wieder zu den früheren Pflegeeltern. Von dort aus begann ich eine Anlehre als Metallarbeiter in einem Schulungs- und Behindertenzentrum. Nach der Lehre arbeitete ich einige Zeit in einem Metallbaubetrieb, bis der Chef anfing Leute zu entlassen. Bald gehörte ich auch zu den Freigestellten.

Mit zwanzig Jahren verliess ich meine Pflegeeltern und suchte mir eine eigene Unterkunft. Ich fand eine Stelle bei der Migros, wurde aber dort vom Vorarbeiter verprügelt, weil ich den Weisungen des Chefs gehorchte und nicht seinen. Ich kündigte deshalb diese Stelle. Später machte ich noch die Lastwagenprüfung und arbeitete danach bis heute als Lastwagenchauffeur bei diversen Firmen.

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Foto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer