Zeitzeugen

 
Die Geschichte von S. A.

Schlechter Start
Bei S.A. war schon sehr belastend, was er auf seinem Lebensweg als Hypothek mitbekam. S.A. wurde als uneheliches Kind einer Magd im Kanton Nidwalden geboren. Schon bald verschob man ihn in den Kanton Obwalden, weil seine Heimatgemeinde S. sich dort befand, die für ihn zuständig war und blieb.

Die Eltern
Sein Vater anerkannte ihn zwar als leiblichen Sohn und gab ihm seinen Familiennamen. Dieser Vater war aber wegen Mordes mehrere Jahre im Gefängnis. Das Tötungsdelikt war im Alkoholrausch und nicht vorsätzlich geschehen. Die Mutter kümmerte sich überhaupt nicht um den Säugling und heiratete später einen andern Mann. Laut Eheverkündung wollte der Vater die Mutter heiraten, das aber passte den Gemeindebehörden nicht. Sie hatten Angst vor weiteren finanziellen Belastungen und versorgten den Vater für weitere drei Jahre in Bellechasse. S's Vater wurde nach der Freilassung aus dem Gefängnis für drei Monate in die psychiatrische Anstalt St. Urban eingewiesen. Als S. ihn im Kindesalter in St. Urban besuchen musste, hatte er grosse Angst vor ihm. Auch später tauchte sein Vater manchmal kurz auf und drohte dem Kind mit „Ranzenschnitten“, was Schläge bedeutete. Schläge waren für den Vater gleichbedeutend mit Erziehen. Einmal setze er sich sogar für den Sohn ein, aber eine Beziehung zwischen Vater und Sohn entstand daraus keine. Noch weniger zur Mutter, die ihn nur ein einziges Mal als Kleinkind besuchte, und die er dann später noch einmal zufällig traf.

Verdingkind
Im Alter von drei Monaten kam S. Zu einer älteren Frau, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdiente, dass sie Verdingkinder betreute. S. hat diese Frau in guter Erinnerung.Sie schlug ihn nicht, im Gegensatz zu ihrer jüngsten Tochter, welche einen Hüftschaden hatte und deswegen mit der Welt haderte. Ihre Aggressionen bekamen dann die Verdingbuben zu spüren. Auch in der Schule im ersten Jahr ging es ihm dort gut. S. erinnert sich, dass er der Frau hie und da ein 20 Rappenstück entwendete, um sich einen „Schnägg“ kaufen zu können. Dass er dafür bestraft worden wäre, kann er sich nicht erinnern. Er blieb bei dieser Frau, bis zum achten Lebensjahr.

Anfang der 2. Klasse kam S. zu einem Kleinbauern ebenfalls im Kanton Obwalden. Dieser war ein Kranzschwinger und rabiater Schläger. S. musste dort vom Morgen bis Abend, vor und nach der Schule wie ein Knecht auf dem Hof arbeiten. Es gab immer zu wenig zu Essen. Die Erwachsenen bekamen Käse zu den geschwellten Kartoffeln, S. bekam nur zwei Kartoffeln. Nicht erklärbar ist, weshalb ihn der Bauer am Sonntag entweder im Zimmer oder Stall einsperrte. Schläge waren die Regel, und diese fielen meist so stark aus, dass S. kaum mehr gehen konnte. Ausschlaggebend waren die Launen des Kleinbauern, nicht ob S. gerade etwas falsch gemacht hatte. Zur Schule ging S. bei den Klosterfrauen, die den Bauern und nicht das Kind unterstützten.

Stigmatisiert
S. vermutet, dass der Bauer mit den Schlägen bei ihm den Teufel austreiben wollte. Der in dieser Gegend sehr ausgeprägte Katholizismus hat seiner Ansicht nach bei seiner Behandlung eine wichtige Rolle gespielt. Man hatte ihn als Sohn eines verurteilten Mörders quasi abgeschrieben. So verweigerte man ihm zum Beispiel die erste Kommunion. In der Schule musste er allein, gut sichtbar, von den andern Kindern getrennt, zuhinterst sitzen. Diese Demütigung weckte seinen Widerstand, und er begann auffällig zu werden, so dass er in eine andere Schule versetzt wurde. In der neuen Klasse wirkte eine Klosterfrau, die sich für S. einsetzte und ihn in Schutz nahm. Endlich wurden auch die miserablen Zustände beim gewalttätigen Bauern bekannt. Zuerst informierte eine Haushalthilfe die Gemeinde über die rohe Behandlung von S. Schliesslich ging ein Nachbar so weit, dass er der Gemeinde androhte, wenn sie nichts unternehme, werde der Knabe eines Tages von diesem Schläger umgebracht. Daraufhin musste S. weitere Prügel seinem Vormund melden. Dies bewirkte, dass er eines Tages dort weggeholt und zu einem andern Bauern gebracht wurde, bei dem er es ihm besser erging. Leider blieb er an diesem besseren Ort nur ein Jahr.

Folgen der Gewalt Warum er nach den beiden Bauern in ein Erziehungsheim versetzt wurde, ist S. bis heute nicht ganz klar. Er vermutet aber, dass er in der Schule störte. Als Folge der erlittenen Gewalt sei er wahrscheinlich völlig verwildert gewesen, so dass er zuerst in ein Durchgangsheim und später in ein Knabenheim gebracht wurde. Aus diesem flüchtete S. nach drei Monaten mit Hilfe der Telefonkasse – er brauchte den Erlös von zehn Franken für eine Fahrkarte – zurück zu dem zweiten Bauern. Dort liess man ihn bis Weihnachten. Wieder wurde er abgeholt und in ein Erziehungsheim gebracht. Diese Massnahme hatte ein enorme Schockwirkung. Sie führte bei S. zu Gedächtnis- und Kombinationsproblemen.

S. war sonst ein recht guter Schüler gewesen. Nun konnte er sich nichts mehr merken, und kam beim Rechnen nicht mehr wie früher mit. Diese Beeinträchtigung dauerte teilweise bis und mit der Gewerbeschule. Erst als Erwachsener konnte er sie überwinden.

Einer der Gründe, weshalb er in das Erziehungsheim kam, war wahrscheinlich auch, dass er auf einen Lehrer losschlug, der ihn wegen eines Bubenstreiches in eine Arrestzelle gesteckt hatte. Dieser Lehrer wurde vom Pfarrhelfer unterstützt. Den Aufenthalt im Erziehungsheim sieht S. nicht nur negativ. Schlimm aber war, dass er sich damit später als zusätzlich gezeichnet fühlte und deshalb grosse Minderwertigkeitsgefühle bekam. Positiv dagegen war, dass er im Heim eine Schlosserlehre machen konnte. S. erinnert sich, dass er während der Lehrzeit zwar widerspenstig gewesen sei, es aber irgendwie doch bis zum Lehrabschluss schaffte. Freundschaften habe er aber dort keine geknüpft.

Als Erwachsener stellte er fest, dass er nach einigen Biergläsern seine Redehemmungen, an denen er sonst litt, verlor. Es gab später doch auch hie und da Leute, die ihm halfen. Beruflich kam S. ebenfalls weiter, indem er berufsbegleitend Heizungs- und Sanitärmonteur lernte. Wegen den früher erlittenen Schlägen beim Kleinbauern bekam er aber zunehmend massive Rückenprobleme, so dass er nicht mehr auf seinem Beruf arbeiten konnte. Glücklicherweise fand S. dann eine Stelle als Anlagenführer, die er bis zur Pensionierung innehatte.

Adaptation durch W. Zwahlen 12.3.2008

Zum Aussenseiter gestempelt/Ich schweige nicht (PDF 1695 KB) (Curaviva 12, 2010)

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