Zeitzeugen

 
Elisabeth Marti

Schlüsselsatz: Wenn sich dir Hindernisse in den Weg stellen, ändere die Richtung, aber nicht das Ziel.

Ich wurde 1933 als Zweitälteste in Lützelflüh (BE) geboren. Am Schluss waren wir vier Kinder. Das erste Jahr konnte ich noch bei der Mutter bleiben. 1937 starb mein Vater an einer Blutvergiftung. Von uns Geschwistern wurden drei an unterschiedlichen Orten bei Bauern verdingt. Zuerst brachte die Mutter auf Geheiss der Behörden meine zwei Brüder zu den entsprechenden Pflegefamilien in Mungnau (BE). Einen Tag später packte sie meine wenigen Sachen in eine kleine Kartonschachtel. Wir machten uns zusammen auf den Weg. Unterwegs meinte sie plötzlich, sie habe etwas vergessen. Ich solle beim Gasthof warten, während sie es hole. Nach einer Weile kehrte sie zurück, hatte aber nichts Weiteres bei sich. Später begriff ich, dass sie den Abschied, der ihr schwerfiel, hinauszögern wollte.

Ich kam zu den Bauern Röthlisberger in Bomatt bei Zollbrück (BE). Das Dorf war ein Teil der grossen Gemeinde Lauperswil, in der es viele kleine Bauernhöfe mit vielen Verdingkindern gab. Röthlisbergers Sohn war damals schon in einer Metzgerlehre, deshalb wuchs ich dort wie ein Einzelkind auf. Ich hatte immer Heimweh nach der Mutter und meinen drei Brüdern und fühlte mich sehr einsam. Nur unser jüngster Bruder konnte bei der Mutter bleiben, welche als Magd oder Haushälterin bei unterschiedlichen Bauern arbeitete. Ich selber musste schon sehr früh als Kind streng mitarbeiten. Weil ich noch so jung war, gestaltete sich der Beginn jeder neuen Arbeit als schwierig bis schlimm. Niemand leitete mich an, half mir, oder zog in Betracht, dass man mir zu viel zumutete.

Die Bäuerin habe ich als ganz böse Frau in Erinnerung. Ich bekam von ihr oft Schläge mit dem Teppichklopfer. Manchmal war eine solche Strafaktion so brutal, dass ich zwei Tage lang, weder sitzen noch die Schule besuchen konnte. Essen konnte ich in dieser Zeit nur im Stehen. Niemand kontrollierte die Bedingungen meiner Fremdplatzierung. In meiner Klasse gab es unter den etwa 30 Schülern 14 Verdingkinder. Ein Bruder war nicht sehr weit von mir bei einem anderen Bauern verdingt und hatte es noch weitaus schlimmer als ich. Sein Lehrer war sehr parteiisch, weshalb die sozial Schwächsten am meisten unter seinem Regime zu leiden hatten. Die Schulzeit liebte ich und sehe sie auch im Nachhinein für mich nicht nachteilig. Mühe hatte ich mit dem Kopfrechnen. Wenn ich die Zahlen nicht vor mir sah, war ich verloren, das hat der Lehrer leider nie begriffen.

Meine Mutter konnte mich höchstens 1-2 Mal pro Jahr kurz besuchen, da sie den Arbeitsplatz wechselte und wenig Freizeit hatte. Meistens kam sich mit dem Velo, manchmal von weit her. Sie meinte, ich hätte es dort recht und erfuhr erst viel später, was ich alles an Pein erleiden musste. Der Pflegevater war recht zu mir, hat mich nie geschlagen. Er arbeitete jedoch tagsüber in einer Fabrik, so dass ich die meiste Zeit der Willkür der Bäuerin ausgeliefert war. Wenn er jedoch zuhause war, suchte ich seine Nähe, indem ich ihm bei der Arbeit half. Auch er hatte unter der Bösartigkeit seiner Frau zu leiden. Sogar der Sohn war vor ihrer Schlechtigkeit nicht sicher. Er hat sich später das Leben genommen. Ich versuchte mich damals damit zu trösten, dass ich mir einredete, die Bäuerin könnte mich nicht lieben, weil ich nicht ihr leibliches Kind war. Stütze in der Not war mir die Gewissheit, dass ich nach der Schulzeit, diesen Platz wieder verlassen konnte. Aber die Isolation, die Einsamkeit und das damit verbundene Elend holten mich immer wieder ein. Ich hatte stets ein riesiges Heimweh nach meiner Mutter und meinen Brüdern. Einmal dachte ich sogar an Suizid. Während den Jahren im Zweiten Weltkrieg schickte die Bäuerin mich jeweils zu den Nachbarn, um die nichtbenötigten Lebensmittelmarken zu tauschen. Dieses Händeln und Lädelen lag mir sehr.

Eigentlich hatte ich den Wunsch Kinderkrankenschwester zu lernen. Aber nach der Schulzeit ging ich als Kindermädchen zu Bauern oberhalb von Morges (VD) in ein Welschlandjahr. Französisch lernte ich dort jedoch nicht, da diese Deutschschweizer waren. Von dort sandten sie mich für ein halbes Jahr zu Verwandten oberhalb von Montreux. Danach fand ich eine Stelle in einer Kinderkrippe und später in der Küche und als Pflegeaushilfe im Spital in Langnau (BE). Der Küchenchef war ein Glarner und beabsichtigte nach Glarus zurückzukehren, um dort ein eigenes Restaurant zu übernehmen. Weil seine Frau das zweite Kind erwartete, fragte er mich, ob ich mit ihnen kommen möge, um der Frau im Haushalt zu helfen und die Kinder zu betreuen. So kam ich hierher. Im Restaurant arbeitete ich nicht so gerne und wurde auch nicht oft darum gebeten.

In Glarus lernte ich dann auch meinen späteren Mann kennen. Wir heirateten 1955. Im selben Jahr kam unser erster Sohn Ernst auf die Welt. Zwei Jahre später der Zweite, Werner. Mit dem Geld vom Pflichtteil aus dem Erbe des Grossvaters, dem Vater meines leiblichen Vaters, konnten wir am 1. August 1959 ein Elektrogeschäft übernehmen. Leider bekam mein Mann 1960 die Kinderlähmung mit Hirnhautentzündung. Er hatte deshalb häufig Kopfweh und es blieb eine Muskelschwäche zurück. So schmiss ich den Laden inklusive Büro und Buchhaltung mehrheitlich allein. Wir waren schliesslich gezwungen, das Elektrogeschäft aufzugeben. Zusammen mit dem Bergführer Frigg Hauser gründete ich eine Bergsteigerschule, die wir später in ein Bergsportgeschäft umwandelten. Dieses führe ich immer noch zusammen mit meiner Tochter Anna-Elisabeth. Auf meinen Reisen nach Bhutan und Nepal lernte ich die Armut in diesen Ländern kennen. Ich engagierte mich dafür, dass es diesen Menschen besser geht.

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Elisabeth MartiFoto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer