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Bündner Zuckerbäcker - Eine faszinierende Emigrations- und Wirtschaftsgeschichte

Bündner Zuckerbäcker

Die Lebensgrundlagen im Engadin und in den Bündner Südtälern waren bis ins 20.Jahrhundert oft zu gering, um die wachsende, einheimische Bevölkerung zu ernähren. Die ersten Zuckerbäcker lernten das süsse Handwerk in der Fremde, zuerst in Italien. Daraus entstand ein blühender Wirtschaftszweig, welcher sich über viele europäische Länder ausbreitete. Zahlreiche Jugendliche und ganze Familie waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und ihr Brot in der Fremde zu verdienen. Wie später die vielen Gastarbeiter aus Italien und Spanien, welche im 19. und 20. Jahrhundert in die Schweiz kamen, weil sie in ihren Heimatländern der Armut und Perspektivlosigkeit entfliehen wollten.

Eine einzigartige Emigrations- und Wirtschaftsgeschichte
Viele der berühmtesten europäischen Konditoreien und Kaffeehäuser wie etwa das Caffè Florian in Venedig sollen von Bündner Auswanderern gegründet worden sein. Die Pasticceria Sandri in Perugia ist heute noch in Bündner Händen und gilt als Umbriens älteste Konditorei. Als eines der berühmtesten Berliner Cafés galt das Café Josty, das über Generationen von verschiedenen Bündner Familien geführt wurde. Auch das berühmteste St. Petersburger Literatencafé, das Café Chinois am Newski-Prospekt, wo Puschkin, Dostojewski und Gogol verkehrten, gehört dazu. Über diesen Berufszweig entstanden einige faszinierende auch wissenschaftliche Studien. Nach dem 1. Weltkrieg ging dieser langjährige Boom zu Ende.

Segen für die Bündner Heimat
Im Verlauf der Jahrhunderte entstanden europaweit in 1000 Städten teilweise die berühmtesten Kaffeehäuser und Konditoreien mit Bündner als Eigentümer. Die Gesamtzahl der Zuckerbäcker stieg auf über 10'000. Der erworbene Reichtum war auch ein Segen für die Verwandten in der Heimat, welche mit den aus dem Ausland erhaltenen Geldspenden ihr Existenz sichern konnten. Die Erfolgreichen unter den Emigranten ermöglichten damit auch den steilen Aufstieg des Tourismus in Graubünden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Lange erfolgversprechend, für Viele jedoch kein Zuckerschlecken
Die ausländischen Zuckerbäcker wurden mit ihren, Cafés, Konditoreien, Restaurants und Hotels zu wichtigen fachspezifischen Lehrbetrieben, da es in Graubünden kaum solche gab. Aber die jungen Leute, welche auf Verdienst und eine bessere Zukunft hofften, mussten oft über Jahre schuften, wurden nicht selten durch schlechte Verträge gebunden, ausgebeutet, hatten zahlreiche Schwierigkeiten zu überwinden, bevor sich der ersehnte Erfolg einstellte. Dasselbe galt für die Selbständigkeit auf dem Beruf im fremden Land.

Was blieb
Im Puschlav, im Hauptort Poschiavo, zeugen prächtige Häuser der erfolgreichen Rückkehrer von ihrem Aufstieg. Im Bergell entstand im Palazzo Castelmur ein Museum zur Geschichte der Zuckerbäckerei.

Walter Zwahlen


Bündner im Russischen Reich, 18. Jahrhundert – 1. Weltkrieg
Autor/Herausgeber: Roman Bühler, Verlag Desertina, Chur, 2003, Herausgegeben vom Verein für Bündner Kulturforschung
Oben:
Fast ein Volk von Zuckerbäckern? Bündner Konditoren, Cafetiers und Hoteliers in europäischen Landen bis zum Ersten Weltkrieg. Ein wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag, Autor: Dolf Kaiser, NZZ Verlag, 1985, vergriffen