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Die versteckten Kinder der Saisonniers

Versteckte Kinder der Saisonniers

Noch bis 2002 bis zum Beginn der Vereinbarung mit der EU gab es für Gastarbeiter keinen Familiennachzug. Entweder war der Vater allein da, oder wenn die Mutter ebenfalls in der Schweiz arbeitete, wuchsen die Kinder bei der Grossmutter, einem Onkel oder eine Tante im Heimatland auf. In manchen Fällen entfiel dieser Verbleib plötzlich und so reisten die Kinder zu den Eltern und blieben dort ohne Schulbildung und Kontakt mit Gleichaltrigen versteckt. Die offizielle Schweiz hat das Leid der Betroffenen bis heute nie gewürdigt. Am 1. Oktober entsteht in Zürich unter dem Namen Tesoro ein neuer Verein von ehemaligen Kindern von Gastarbeiter, welche von ihren Eltern versteckt werden mussten.

Aus der Sicht eines Kindes erzählt der Schriftsteller Vincenzo Todisco in seinem erschütternden Roman «Das Eidechsenkind» von einem klandestinen Schicksal in einem belebten Wohnhaus, von kindlichem Einfallsreichtum und heimlicher Freundschaft. Das Eidechsenkind ist in Italien daheim und im Gastland zu Hause. Hier muss es sich verstecken: unter der Kredenz, im Schrank, in der Abstellkammer. In heimatlichen Ripa hingegen rennt der Junge wie alle Kinder dem Ball hinterher, jagt draussen den Wespen nach, gleitet von einer Umarmung in die andere. Dort, bei Nonna Assunta, wo ein Haus darauf wartet, fertig gebaut zu werden. Hier im Gastland geht der Vater Tag für Tag auf den Bau, die Mutter in die Fabrik – das Eidechsenkind lässt Stunden und Tage verstreichen. Es vermisst die Wohnung mit seinen Schritten, hört die Nachbarin um Mehl bitten, die Kinder im Hof Fangen spielen, sieht die Stiefel des Padrone, der gerne zum Abendessen kommt und lange bleibt. Bis es sich eines Tages zu heimlichen Streifzügen ins Treppenhaus hinauswagt, in andere Wohnungen, wo niemand die Gegenwart des Eidechsenkindes auch nur ahnt. Einzig Emmy, dem Mädchen, das neu im dritten Stock wohnt, gibt sich das Eidechsenkind zu erkennen. Der Dachstock gehört ihnen, doch bald will Emmy hinaus in die Welt, eine Band gründen, ans Meer.

Hintergrund:
Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. Das Eidechsenkind ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch, mit der der Autor für den Schweizer Buchpreis 2018 nominiert war.


Text: Walter Zwahlen