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«Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England»

Simone Müller

Ein fast vergessenes Stück Schweizergeschichte aus den 1930-er bis in die 1950er Jahre hat die Autorin akribisch aufgearbeitet. Simone Müller geht in 11 Portraits stellvertretend individuellen Frauenschicksalen nach, die bisher kaum zur Kenntnis genommen wurden. Sie vermittelt in ihrem neusten Buch Begegnungen mit diesen bejahrten Zeitzeuginnen, ihren Geschichten, ihren Lebensumständen, sowie einen wichtigen Einblick in die Sozialgeschichte der Frauen und ihrer Zeit. Sie hat ihnen zugehört, den angeblich «Unbedeutenden» eine Stimme gegeben und sie auf eindrückliche Art gewürdigt.

Das Projekt:
Ausgangspunkt der Recherchen von Simone Müller war ein Nebensatz des Pfarrers der Swiss Church in London, welcher ihr gegenüber die Existenz dieser Frauen in Vereinigten Königreich erwähnte. Sie nahm Kontakt auf in verschiedenen Regionen Englands mit solchen Frauen auf. Elf Frauen erklärten sich schliesslich zu den Interviews bereit, welche nun in Buchform vorliegen. Simone Müller ging es aber auch um den historischen Hintergrund der Thematik. Im Bundesarchiv stiess sie auf umfangreiches Material aus dieser Zeit und den Involvierten. Die meisten Frauen kamen aus einfachen Verhältnissen und sahen damals in der Schweiz weder ein Auskommen noch eine berufliche Zukunft für sich persönlich. Der Aufbruch war auch eine Chance, um der Enge zu entfliehen. In gewissen Branchen wurden Englischkenntnisse immer wichtiger. Dazu hatten England und die USA als Siegermächte einen besonderen Stellenwert.

Kurzinhalt des Buches:
In der Zwischenkriegszeit gingen sie zu Hunderten, in den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren zu Tausenden. Sie hiessen Emma, Bertha oder Marie und kamen aus verschiedenen Kantonen. Die Mehrheit der jungen Frauen konnte kein Englisch, hatte nur wenig Ersparnisse und war noch nie so weit gereist. In England fanden sie Arbeit als Hausangestellte, Kindermädchen oder Gesellschafterinnen in Städten oder auf Landgütern von Adligen. Es war ein Massenexodus von jungen Frauen, wie er in der Schweizergeschichte wohl kein zweites Mal vorkam. Und diejenigen, die in England geblieben sind, passierte oft genau das, wovor sie so eindringlich gewarnt worden waren: Sie verliebten sich, wurden schwanger, haben geheiratet und blieben. Unter den Portraitierten hatten einige auch Glück.


«Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England»,

Simone Müller, Limmat Verlag, 2017 mit 59 Fotografien von Mara Truog, 256 S., Fr. 38.–

Zeitzeugin Mina Oppliger, Jahrgang 1919
Reise wird bezahlt, steht im Zeitungsinserat im Mai 1939 im Wirtshaus Pöstli in Willisau. Mina Oppliger überlegt nicht lange: «Das war eine so arme Zeit damals. Es gab keine Arbeit, und niemand hatte Geld.» Sie meldet sich, und wenige Wochen später beginnt sie in Stamford Hill im Norden von London in einer Familie zu arbeiten. Aber bereits nach wenigen Monaten muss sie wieder zurück, der Zweite Weltkrieg ist ausgebrochen. «Es reut mich bis heute, dass ich dort gehen musste.» Mina Oppliger, verheiratete Rui, erzählt ihre Geschichte im Alterszentrum in Laufen, wo sie seit einigen Jahren lebt. Sie ist 98 Jahre alt und eine der letzten Zeitzeuginnen, die von der grossen Repatriierung im Oktober 1939, der wohl grössten in der Geschichte der Schweiz, noch berichten kann, als über 900 Schweizerinnen durch die Schweizer Botschaft aus Grossbritannien nach Hause zurückgeholt wurden.

Alle Hochachtung für dieses Werk.

Text: Walter Zwahlen