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Wenn das Schweigen durch die Geschichte spricht

Schweigen

Weder das Wegschauen, Verschweigen noch das Vertuschen können Unbewältigtes aus der Welt schaffen. Es ist ein einfältiger Glaube, zu meinen, ein Übel werde durchs Ignorieren beseitigt. Das Zeugnis von Not, Elend, Willkür, Missbrauch, Gewalt oder Terror geht nie verloren. Jegliche Misere hat eine eigene Dynamik, die sich in irgendeiner Form weiter bemerkbar macht, machen will. Unrecht verschafft sich irgendwann Gehör und findet immer einen Weg, dies zu erreichen. Maulkörbe oder Einschüchterung stoppen diesen Prozess höchstens vorübergehend.

Bewältigt wird bewusste massive Schädigung immer erst dann, wenn alle Fakten unzensiert aufs Tapet kommen. Niemand kann für sich das Recht in Anspruch nehmen, „ungestraft“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Diese Schuld verjährt nicht. Das dunkle Kapitel der zwangsweisen Fremdplatzierung ist eine solche kollektive Schuld. Aber gegen die geforderte umfassende, längst überfällige Aufarbeitung und die berechtigte, auch finanzielle Wiedergutmachung gibt es in der Schweiz Gegenkräfte, die das unbedingt verhindern möchten.


Dreierlei Schweigen
Es gibt das Schweigen der Opfer. Durch mehrfache Traumatisierung, Zensur und Persönlichkeitszerstörung wurden die Opfer zum Schweigen gebracht. Dazu kommen Schande, Schmach und Schuldgefühle, welche ein darüber Reden manchmal fast unmöglich machen. Oft ist das Erlebte so schlimm, dass man es nicht in Worte fassen kann. Unsäglich! Dieses Schweigen ist bedingt durch die erlebte Gewalt, die Angst der Vernichtung oder Lebensbedrohung. Manchmal auch gekoppelt mit dem Schuldgefühl, überlebt zu haben, während andere neben mir oder an meiner Stelle starben. Dieses Schweigen ist zutiefst geprägt von Ohnmacht. Es wirkt wie ein Mundknebel.

Das Schweigen der Täter ist das Verschweigen dessen, was geschehen ist. Die eigene Schuld wird so aus dem Bewusstsein verdrängt. Gerade indem das Geschehene die kritische Grenze längst überschritten hat, muss es unbedingt verschwiegen werden. Der Täter schweigt oder bestreitet die Tat, weil er zum einen verantwortlich gemacht werden könnte und zum andern, er sich selber dadurch vermeintlich vorübergehend schützen kann. Die Losung: „Das war ich nicht“, bedeutet, dass er den aggressiven Teil seiner Person abspaltet. Der Täter verneint deshalb die Tat und oder versucht weiter, das Opfer oder seine Fürsprecher zum Schweigen zu bringen. Dahinter stehen immer der Machtaspekt und die Angst vor der Entdeckung. Der Täter ist ja allein durch die Tat mächtig. Da es aber eine Untat oder ein Verbrechen war, darf dies auf keinen Fall ans Licht. Wegen des Vergehens die Macht zu verlieren und Rechenschaft ablegen zu müssen, bedeutet für den Täter den blanken Horror.

Das Schweigen der Feigen und Profiteure. Das Nichthandeln und das Geschehen dulden macht sie zu Mittätern. Nichthandeln, wenn man Zeuge von Gewalt wird, bedeutet strukturelle Gewalt. Gewalt, die man hätte verhindern können, es aber unterlässt, bedeutet Mitverantwortlicher des Geschehens. Es sind Mitwisser und Mitläufer, darunter solche, die sich aus egoistischen Gründen, Feigheit oder falscher Solidarität heraushalten, nicht eingreifen. Sie schauen oder schauten bewusst weg.
Sie schwiegen und schweigen, weil das Reden sie belasten würde. Sie behaupten, nichts davon gewusst zu haben. Kennen wir vom Zweiten Weltkrieg zur Genüge. Der Mitwisser möchte aber unbedingt verhindern, dass es rauskommt, und er als Beteiligter in die Pflicht genommen wird. Die Argumentation zielt darauf hin, nichts gewusst, nichts mitbekommen, oder keinen Einfluss auf das Geschehen gehabt zu haben. Es sind Rechtfertigungen, die dazu dienen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Eine vorgeschobene Ignoranz, Reinwaschung und die Abschiebung der Schuld auf die Umstände oder angebliche Machtlosigkeit.

Die Verschwörung der Verschweigenden
Weil die Täter das Schweigen zu ihrem eigenen, vermeintlichen Schutz aufrechterhalten müssen, zwingen sie eigentlich auch Unbeteiligte und Unschuldige in diese verheerende Dynamik. Die eigenen Angehörigen bis hin zu Kindeskindern dürfen durch das verhängte Tabu nicht an der Sache rühren. Dazu gesellen sich zwingend die Mittäter ob aktiv oder passiv. Als weitere Gruppe die Mitwisser, welche diesem Treiben nicht Einhalt boten, und sich dadurch schuldig machten. Sie sind in dieses Schweigekomplott eingebunden. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.

Die Vermeidungsstrategie: Abwiegeln, bagatellisieren, verharmlosen und beschönigen
Die Täterseite benützt die obengenannten Formeln. Sie nährt damit aber bloss eine destruktive Verdrängungsunkultur. In der Politik werden deswegen weiter falsche Mythen zelebriert. Eine davon: Niemand ist schuld. Es entsteht ein anachronistisches Flickwerk aus verqueren Deutungen. Eigentlich eine obskure Dialektik zur Tarnung des wirklichen Geschehens.

Schweigen verhindert die Aufarbeitung
Aus dem Erbe einer solchen historischen Konstellation beginnt durch Schweigen und Verdrängung ein verhängnisvoller Prozess. Solange diese transgenerationelle Hypothek nicht aufgebrochen wird, ist eine Verständigung und Versöhnung schlicht unmöglich. Die Täter sind in ihrem Schweigen verbarrikadiert, die Opfer mit der aufgezwungenen Mundfessel eingekerkert. Der Einzelne, die Gruppe, die jeweiligen Kontrahenten oder ganze Staatswesen bleiben in dieser Verhinderungskonstellation blockiert. Das bedeutet, dass die belastende Vergangenheit die weitere persönliche oder kollektive Entwicklung lähmt. Tabus und Familiengeheimnisse können absurde Loyalitäten produzieren, was die Konfrontation mit der Geschichte verhindert. Das Unausgesprochene und Unaussprechliche stellt sich wie eine Wand zwischen die Generationen. Das Vorenthalten von wichtigen Informationen, welche zentral das Familien- oder Gesellschaftssystem betreffen, führt zwangsläufig zur Desorientierung. Innerhalb des Tätersystems kommt es zu einer unbewussten Gehirnwäsche verbunden mit einer Faktenzensur. Damit wird die Tat versenkt, Beteiligte und Unbeteiligte in ihrer Entwicklung massiv beeinträchtig. Lebendig begraben.

Der vorliegende Text entstand aufgrund mehrjähriger Recherchen und ist Teil eines längeren Fachvortrags.

Walter Zwahlen

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