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Horst Schreiber, Innsbruck

Horst Schreiber

Der Verein netzwerk-verdingt konnte am 17. März 2013 in Innsbruck mit Professor Horst Schreiber anlässlich einer Ehrung für seine Forschung sprechen. Er ist Autor des Buches „Im Namen der Ordnung Heimerziehung in Tirol“. Seine Studien haben Modellcharakter für die Aufarbeitung der zwangsweisen Fremdplatzierung im europäischen Kontext.

netzwerk-verdingt: Du hast zahlreiche Interviews mit Betroffenen geführt. Was Dir diese an erlittenen Gräueltaten und über die versaute Kindheit erzählten, ist ja nur wenige Jahrzehnte her. Was ging Dir dabei durch den Kopf?

Horst Schreiber: Zunächst einmal war ich fassungslos aufgrund des Ausmasses der Gewalterfahrungen und noch mehr wegen der organisierten, planmässigen Kooperation zwischen Jugendämtern, Heimen, Psychiatrien, Gerichten, Politik, Schulen und Wissenschaft. Schockierend war weiters das geradezu mafiöse Netz der Vertuschung und wie sehr die honorige, bürgerliche Gesellschaft sich aus ihrer Furcht vor der Lebensweise der Unterschichten bedroht fühlte und einen Kampf gegen die Armen statt gegen die Armut führte. Erst allmählich wurde mir klar, wie sehr vielen Zehntausenden Kindern und Jugendlichen über Jahrzehnte hinweg in einem Rechtsstaat jegliche Rechte genommen wurde, dass es sich bei der Heimerziehung um ein Unrechtsystem handelte, um systematische Menschenrechtsverletzungen und nicht um Einzeltäterschaft. Am meisten bestürzte mich, wie sehr die Menschen, mit denen ich sprach, daran litten, als wertloser, überflüssiger Müll behandelt worden zu sein, wie sie miterleben mussten, wie die TäterInnen geehrt wurden, während die Nachwirkungen ihrer Heimunterbringung ihr Leben bis heute beeinträchtigt, ja zerstörte. Für mich war es eine grosse Herausforderung, einerseits wissenschaftlichen Standards in meiner Forschung zu genügen, andererseits immer wieder Nähe zuzulassen, empathisch zu sein. Schliesslich waren meine GesprächspartnerInnen keine Objekte, es ging darum, Ihnen jene Würdigung angedeihen zu lassen im Rahmen der eigenen bescheidenen Möglichkeiten, die ihnen ihr Leben lang vorenthalten wurde.

n-v: Krasser könnte der Unterschied zwischen unserer Wohlstandsgesellschaft und dem Elend der damals verwahrten Kindern kaum sein. Wie reagierte die Öffentlichkeit auf Deine Publikation? Wurdest Du angefeindet?

H.S.: Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit bestand darin, mit und für viele ehemalige Heimkinder, die sich an mich wandten, dafür zu kämpfen, dass sie zu ihren eigenen Akten kamen. Die Widerstände, die es dabei zu überwinden galt, waren enorm, das Unverständnis bei betroffenen Institutionen gross. Dadurch, dass es mir gelang, immer wieder die Medien einzuschalten, waren wir dann doch recht erfolgreich. Augenfällig war aber, dass eine Art Ombudsstelle fehlte und fehlt, die die Interessen der Betroffenen zu vertreten hilft. Viele wissen wenig um ihre Rechte oder haben nicht die Erfahrung, effizient Forderungen zu stellen. Ich selbst komme da immer wieder an die Grenzen meiner Kraft und es ist ärgerlich, dass jetzt, da das Thema wissenschaftlich aktuell ist und Mittel fliessen, gern geforscht wird, aber das Engagement für die ehemaligen Heimkinder, für das man nicht bezahlt wird, vielfach ausbleibt. Die Aufarbeitung der Heimgeschichte hat eben auch eine politische Dimension. Angefeindet wurde und werde ich in einigen Institutionen und da wird auch gegen meine Person gearbeitet, aber nur hinter vorgehaltener Hand, intern, nach aussen hin gibt es Händeschütteln und Schulterklopfen. Eine offene Kritik gegen meine Forschung ist nicht vorhanden, diese Feigheit hat aber auch einen Vorteil. Sie zeigt, dass es öffentlich nicht opportun ist, die Verbrechen an den ehemaligen Heimkindern oder an Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien anzuzweifeln.

n-v: Was hat Dich selber dazu bewogen, Dich mit dieser Thematik zu befassen?

H.S.: Ich bin auf der Innsbrucker Zeitgeschichte der Universität Innsbruck habilitiert, aber ich stehe ausserhalb der Zwänge des wissenschaftlichen Betriebs. Ich brauche nichts für eine Karriere, ich muss keine Drittmittel auftreiben, ich kann forschen, was ich für richtig und wichtig erachte. Ich forsche, weil ich etwas verändern will und ich forsche, um jenen eine Stimme zu geben, die mundtot gemacht wurden. Mein Buch „Im Namen der Ordnung“ ist in der Reihe transblick publiziert worden, die neben mir Meinrad Ziegler und Waltraud Kannonier-Finster herausgeben, und als Ziel der Reihe heisst es da unter anderem, dass transblick fragt, was wir als vernünftig, gerecht und der menschlichen Würde angemessen erachten. Mich interessiert die wissenschaftliche Community nicht so sehr, ich schreibe nicht mit Blick auf sie. Ich will unter Einhaltung wissenschaftlicher Regeln Position beziehen und Partei ergreifen. Mir wurde vorgeworfen, dass ich Anwalt der Betroffenen wäre und deshalb keinen Forschungsauftrag vom Land Tirol bekommen könne, das habe ich informell erfahren. Als ob etwa die Forschung zum Nationalsozialismus nicht wissenschaftlich wäre, nur weil die Forschenden nicht die gleiche „Objektivität“ gegenüber dem KZ-Opfer und dem KZ-Wächter einnehmen. Ich bin zum Thema Heimerziehung über einen Freund gekommen, der ein Jenischer ist. 2007 bis 2009 wollte aber kaum einer der ehemaligen Heimkinder reden, zu sehr waren sie noch von ihrer Stigmatisierung traumatisiert. Da habe ich in dieser Zeit zwei Portraits von Betroffenen geschrieben und einen Aufsatz über Rahmenbedingungen der Heimerziehung. Als dann die Diskussion von Deutschland auf die katholische Kirche in Österreich übergriff, nutzte ich die Gelegenheit, um beim Tiroler Soziallandesrat vorstellig zu werden, woraufhin eine Untersuchungskommission eingerichtet wurde und das hat dann eine Lawine losgetreten.

n-v: Erfreulicherweise hat die Regierung des Bundeslandes Tirol, das systematisch begangene Unrecht ihrer Amtsvorgänger erkannt. Sie gab Dir den Auftrag für die Aufarbeitung und hat sich bei den Betroffenen entschuldigt. Weiter wurden Beratungsstellen geschaffen und Wiedergutmachung geleistet. Weshalb blieb dieser mutige Schritt des Bundeslandes Tirol in Österreich ein Einzelfall?

H.S.: Wichtig zu erwähnen ist, dass ich „Im Namen der Ordnung“ aus Eigeninitiative geschrieben habe, als erste Publikation, die sich umfassend mit der Heimerziehung in Österreich am Beispiel Tirols auseinandersetzte. Das war keine Auftragsarbeit und das habe ich daher auch ohne Finanzierung verfasst, weil es mir ein Anliegen war und weil ich wusste, dass ich mit dem Buch öffentlich Druck machen kann. Es kam 2010 heraus, 2012 folgten dann Wien, 2013 Salzburg. Die Aktivitäten in Tirol waren der Motor für ähnliche Entwicklungen in Vorarlberg, Oberösterreich und Wien.

Interview: Walter Zwahlen

Kurzlebenslauf: Geb. 1961; Mag. phil., Dr. phil., Univ.-Doz. am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck; Lehrer für Geschichte und Französisch am Abendgymnasium Innsbruck, einer Schule der zweiten Chance; Leiter von erinnern.at, einem Vermittlungsprojekt des bm:ukk; Vorstandsmitglied der Michael-Gaismair-Gesellschaft; Reihenherausgeber von Studien zu Geschichte und Politik und der Jugend-Sachbuchreihe Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern sowie Mitherausgeber der Gaismair-Jahrbücher und der sozialwissenschaftlichen Reihe transblick; Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, v.a. für das Eintreten der Opfer der Heimerziehung. (www.horstschreiber.at)

Cover
Im Namen der Ordnung Heimerziehung in Tirol, Horst Schreiber, Studien Verlag, 2010

Am Beispiel Tirols diskutiert dieses Buch die gesellschaftlichen Hintergründe für die unerbittlich harte Erziehung von Kindern aus armen, deklassierten Tiroler Familien. Auftrag und Duldung durch weltliche und geistliche Autoritäten und die Mittäterschaft sowie das Schweigen oder die Hilflosigkeit von FürsorgerInnen, ErzieherInnen und PsychiaterInnen waren dabei zentrale Rahmenbedingungen.
„Das Lesen dieser Berichte von Betroffenen lässt den Atem stocken und Entsetzen aufkommen. Es regt sich Abwehr, vielleicht auch Zweifel an der Wahrheit dieser Erzählungen. Manche werden sich fragen, ob es wirklich notwendig sei, diese Erzählungen über Kindern zugefügte Grausamkeiten und Erniedrigungen in dieser Ausführlichkeit zu publizieren. Dazu kann es nur die Antwort geben: Ja, es ist notwendig. Die Stimme der Betroffenen ist unverzichtbar, wenn es um Reflexion und kritische Aufarbeitung dieser Verhaltensweisen geht. Horst Schreiber hat mit vielen ehemaligen Zöglingen aus Tiroler Heimen lebensgeschichtliche Interviews geführt. Sie lassen erahnen, welche Leiden sie erduldeten und wieviel Mut, Widerstandskraft und Überlebensenergie sie entwickeln mussten und noch immer brauchen. Das Buch erläutert die gesellschaftlichen Hintergründe für die unerbittlich harte Erziehung von Kindern aus armen, deklassierten Tiroler Familien. Auftrag und Duldung durch weltliche und geistliche Autoritäten und die Mittäterschaft sowie das Schweigen.