News

Die fiese Mechanik der Scham- und Schuldfalle

Scham

Geprägt und geleitet durch Vorurteile, eugenische oder sogar auch rassistische Dogmen erwiesen sich Schuldzuweisungen über mehrere Jahrhunderte verhängnisvoll für die zu Unrecht Beschuldigten. Den Hintergrund dazu bildeten Dummheit, Neid, Bösartigkeit, Gewalt oder Eigennutz. Es wurde gezielt Macht ausgeübt, die Angst geschürt und der Widerstand bei den Opfern gebrochen. Hilfe oder zumindest Unterstützung für sie kam kaum zur Anwendung. Es brauchte kein gravierendes Fehlverhalten, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Klasse oder Ethnie genügte, um geächtet, isoliert, diskriminiert und stigmatisiert zu werden. Die jahrelange Benachteiligung hinterliess ihre Spuren. Ihr Selbstbewusstsein wurde auf lange Sicht geschädigt.

Geschichtlicher Hintergrund:
Wer als Kind aus der Familie herausgerissen wurde, wer sich wegen einer Notlage in den Augen der Behörden, Institutionen, dem näheren Umfeld oder nicht der Norm entsprechend anders verhielt als üblich, kam schnell in ein schiefes Licht. Blosse Zurechtweisung war dabei noch eine milde Form der Korrektur. Massive Drohungen oder Strafen meistens die gängigen Mittel. Der oder die Betroffene waren je nach Alter und Hintergrund kaum in der Lage, sich dagegen zu wehren. Allein die Machtfülle bestimmte, welche Schritte eingeleitet wurden.

Wer dem Diktat der Fremdbestimmung unterlag, wurde als Erstes aus dem gewohnten Umfeld entfernt. In der Regel ohne die entsprechende Information, noch über die Dauer der Massnahme und den Ort der «Verbannung». Die Zöglinge bekamen eine diffamierende, unvollständige, fehlerhafte und verurteilende Vorgeschichte mit, welche man ihnen aber verheimlichte. Sie hatten sich offenbar fehlerhaft verhalten, kamen aus fragwürdigen Kreisen, waren gefährdet und mussten hart angefasst werden. Ein für viele verhängnisvoller schlechter Start, der sie von Beginn weg als Verlierer einstufte.

Das Konstrukt Schuld und das angebliche Fehlverhalten wurden meistens über Jahre oder sogar Jahrzehnte perpetuiert. Die daraus folgende Verunsicherung bei den Entwurzelten erlaubte es den rigiden Vertretern der Aufsicht, Fürsorge, Lehrern, Pflegeeltern etc. sie unbesehen hart anzufassen. Diese Zwangslage bewirkte, dass durch die lange Dauer und die vorgesetzte Wiederholung, sich Scham- und Schuldgefühle bei ihnen tief einnisteten. Dieser Fakt war meist gravierend bis weit ins Erwachsenenleben. Auf dem langen Weg erfolgten weder Klärung noch Korrektur. Und die ursprüngliche Fehleinschätzung bildete den Anfang einer Negativspirale, deren Dynamik nur schwer zu stoppen war. Kritische, mutige Geister, welche solche verheerende Entwicklung stoppten, waren eher Ausnahmen.

Eine momentane Überforderung, ein Entwicklungsstopp, ein Entwicklungsrückstand, Krankheit oder ein psychisches Tief genügten, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und darauf folgten meistens drastische Massnahmen. Einschüchterung, Drohungen und Strafen bewirkten wiederholt Ängste, welche jeden Protest im Keim erstickten und Dressurakt verstärkten. Fluchtorte oder Schutzengel schienen auf einem anderen Planeten zu existieren. Massive Gewalt und sexuelle Übergriffe vergifteten die sowieso prekäre Existenz zusätzlich. Unter dem Eindruck der nie endenden Schuldzuweisungen übernahmen viele die Einschätzung der Täter, da müsse ein Fehlverhalten bei ihnen selbst vorhanden sein. Dass gerade die scheinbar Unbescholtenen aber Verursacher massgeblich für diese zerstörende, erniedrigende und perverse Mechanik verantwortlich waren, kam nie aufs Tapet.

Scheitern in irgendeiner Form, finanzielle Verluste, Schulden, Entlassungen, Vorwürfe, massive Anschuldigungen oder Mobbing können beim Opfer bis heute dieselben Reflexe auslösen. Die Betroffenen fühlen sich auf ein Nichts reduziert. Während Wirtschaftskrisen war der Alkohol für die Arbeitslosen ein verhängnisvoller Ausweg, wie die Geschichte beweist. Ganz krass wirkten sich Schuld und Scham für Frauen in der Prostitution aus, weil hier die verlogene Moral grossen Schaden anrichtete. Die gefallenen Frauen wurden zu solchen gemacht, weil man sie verstiess. Nicht sie suchten diese Rolle, sondern man zwang sie zum gesellschaftlichen Abstieg.

Text: Walter Zwahlen


Gotthelf beschrieb im Buch «Der Geltstag» bereits 1846 das Geschehen rund um eine Gant.