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Interview mit Ursula Müller-Biondi

Bis Ende 1981 konnten die Behörden Jugendliche und Erwachsene ohne juristisches Verfahren über Monate oder Jahre in einer Anstalt versorgen. Sie hatten weder ein Anhörungsrecht noch eine Rekursmöglichkeit. Ursula Müller-Biondi kam mit 17 Jahren 1967 in die Frauenstrafanstalt Hindelbank und erlebte dort ein dunkles Kapitel der einstigen Versorgungspraxis.

netzwerk-verdingt: Dein Vater war Italiener in Zürich, wo Du aufgewachsen bist. Wie hast Du Deine Kindheit in den 50er und 60er Jahren dort erlebt?
Ursula Müller-Biondi: Die Fiktion des einheitlichen Bürgerrechts in der Familie brachte vielen Familien grosses Leid, auch unserer Familie. Der Film „Die Schweizermacher“ schilderte recht zurückhaltend, wie das damals vor sich ging. In der Realität war aber alles noch viel demütigender. Die Beamten der Einbürgerungsbehörde kamen grundsätzlich unangemeldet. Sie zogen Informationen bei den Nachbarn ein und forderten meinen Vater auf, ihnen die zirka zweitausend Franken für die Einbürgerungskosten vorzuweisen. Unser Familienleben wurde auch dadurch belastet, dass kleinste Vorfälle, zum Beispiel wenn mich ein Mitschüler nach Hause begleitete, nachteilig ausgelegt werden konnten. Ich lief Gefahr, als „Buebemeitli“ zu gelten, und das konnte bei der Beurteilung durch die „Schweizermacher“ Schwierigkeiten mit sich bringen. Meine Eltern verlangten ständig von uns, dass wir uns „ruhig“ verhielten. Für mich und meine ältere Schwester war dies nicht ganz einfach, denn wir waren zwei hübsche Mädchen, die von den jungen Burschen in Schule und Umgebung heftig umworben wurden. Zudem führte das Wohnen auf engem Raum zu vielen Spannungen und Streitigkeiten; dabei spielten auch innerhalb der Familie die Animositäten „Schweizerisch-Italienisch“ eine verhängnisvolle Rolle.

n-v.: Obwohl Deine Mutter (Gertrud Hasler) ursprünglich Schweizerin war, mussten Deine Eltern das damals entwürdigende Einbürgerungsverfahren auf sich nehmen. Wie hat sich das auf Dich ausgewirkt?
U.M.-B.: Auch mein Vater hatte eine Schweizer Mutter (Lina Widmer). Wir waren in Zürich geboren und nur mit den hiesigen Verhältnissen vertraut. Mit 11 Jahren wurde ich zum ersten Mal mit den Ressentiments gegenüber den Gastarbeitern konfrontiert. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft spuckte mich mit den Worten an, ich sei ein "Sautschingg" und gehöre nicht hierher. Dies war für mich ein derart einschneidendes Erlebnis, das mich jahrelang nicht mehr los liess.

n-v: Du wurdest mit 16 Jahren von Deinem damaligen Schweizer Freund in Genua schwanger. Nachdem er plötzlich verschwand, griff Dich die italienische Polizei auf und spedierte Dich in die Schweiz zurück. Von den Behörden wurdest Du dann unverzüglich administrativ-versorgt. Wie hast Du dieses ungerechtfertigte Einsperren verkraften können?
U.M.-B.: Wenn ich es in der Zelle aus lauter Verzweiflung und furchtbarer Platzangst nicht aushielt, machte ich, wie ein Tiger im Käfig meine tausend Schritte hin und her. Ich redete und schrie mir auch immer wieder ein, dass ich es schaffen werde, aus eigener Kraft eine berufliche Karriere machen und eines Tages alles in einem Buch festhalten werde, um der Welt zu zeigen, was die Vormundschaftsbehörde uns angetan hatte. Mein ganzes junges Leben und das meines noch ungeborenen Sohnes hing an diesem Leitsatz. Dieser war unser beider Rettung! - Er wurde jahrelang zu meinem Wegweiser - Schon damals sprach ich in Mehrzahl, da ich andere Mädchen und Frauen in einem desolaten Zustand sah, deren Wille schon längst gebrochen war. Für viele von ihnen war Hindelbank die Endstation. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich aber noch nicht, dass es über 30 Jahre brauchte, um die Kraft zu finden, mich endgültig meiner Vergangenheit zu stellen und mich zu "outen".

n-v: Nach Deiner Freilassung aus Hindelbank hast Du jahrelang mit der Schmach gelebt, im Gefängnis gesessen zu haben. Du wolltest aber nach all den schlimmen Erfahrungen eine andere Stellung in der Gesellschaft. Weiter hast Du eine Autobiographie geschrieben. Später kam dann noch der Kampf um eine offizielle Entschuldigung und Wiedergutmachung für die zu Unrecht Administrativ-Versorgten dazu. Wie hast Du dies alles geschafft?
U.M.-B.: Ich erkannte sehr schnell, dass durch dieses eine Jahr in Hindelbank zwischen mir mit dem Stigma „Häftling“ und nicht als „Erzogene“ und der Gesellschaft für immer ein tiefer Graben entstanden war. Gerade wegen all der Traumata, die ich in Hindelbank erlitten hatte. Um mein Leben mit aller Kraft meistern zu können, bedeutete dies für mich einen jahrzehntelangen Kampf und Verdrängungszwang. Niemand ausser meinem ersten Ehemann durfte davon erfahren, eher wäre ich gestorben. 30 Jahre nach Hindelbank, als ich aus therapeutischen Gründen meine Geschichte niederschrieb, kam zusätzlich zur Vergangenheitsbewältigung noch das Grauen. Man glaubte mir die Geschichte nicht. Von da an war ich den Launen der Gesellschaft in einem andauernden zermürbenden Rechtfertigkeitszwang ausgesetzt. Ich wurde ein fantastisches Ablenkungsziel für Leute, die mit ihrem Leben unzufrieden sind. Trotz all meiner sozialen und beruflichen Erfolge als Hauptkursleiterin in der EDV während über 20 Jahren, u. a. 10 Jahre im BIT und der UNO in Genf, hatte ich keine Möglichkeit mehr, mich zu wehren. Das Stigma „Häftling“ verfolgte mich weiter. Während zwei Jahren isolierte ich mich immer mehr. An die damaligen Mitglieder der Behörde konnte ich mich nicht mehr wenden, um sie zur Rechenschaft zu ziehen, denn sie waren entweder nicht mehr im Amt oder schon längst verstorben. In meiner grössten Verzweiflung wandte ich mich anfangs 2008 an den Beobachter. Nur dank den Recherchen von Dominique Strebel, Redaktor des Beobachters, und etwas später der Historikerin Tanja Rietmann, fing man an, mir das Erlebte und die Auswirkungen dieser damaligen fatalen Behördenpraktiken zu glauben. Auf die Veröffentlichung meines Schicksals am 19. März 2008 im Beobachter gründete ich die Anlaufstelle für "Administrativ-Versorgte 1942-1981". Seit dem 1. Oktober 2011 bin ich Mitgründerin des Vereins RAVIA (Rehabilitierung der administrativ Versorgten). Auch wenn ich überzeugt bin, dass sich der ganze Kampf mehr als gelohnt hat, schaudert es mich manchmal beim Gedanken, dass die offizielle Entschuldigung durch Frau Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und die Vertreter der SODK für mich schliesslich lebensentscheidend war. Dank dieser offiziellen Entschuldigung gelingt es mir heute nach so vielen Jahren, all die Erfolge endlich zu geniessen, die ich verbunden mit jahrzehntelanger harter Arbeit erreicht hatte. Ich brauche nicht mehr, und das vielmals bis zur Erschöpfung, durch das Leben zu rennen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich immer noch mehr beweisen müsse, da ich sonst der Gesellschaft nicht genügen könne. Mein Appell - ich darf ihn auch für die anderen Betroffenen aussprechen - an die Justiz und an die Gesellschaft lautet: Lasst so etwas nicht noch einmal geschehen! Die unbedingte Wahrung der Menschenwürde muss oberstes Gesetz sein! - Wir Betroffenen appellieren an das soziale Gewissen des einzelnen Menschen. Jeder Bürger trägt eine soziale Verantwortung. Er muss sich ihrer bewusst sein.

Interview: Walter Zwahlen

Administrative Versorgung
Von 1942 bis 1981 hiess diese Praxis Administrativversorgung. Tausende Jugendlicher wurden unter dem damaligen Artikel 283-284 aZGB in Straf- Arbeitsanstalten und Erziehungsheimen auf unbestimmte Zeit eingewiesen. Die Psychiatrie half wacker mit. Patienten wurden betäubt und so bewusstlos ins Frauengefängnis nach Hindelbank gebracht.
Wir wurden damals von Jugendschutz-Behörden unter dem Vorwand, wir wären unzumutbaren Gefahren ausgesetzt, und zu unserer Nacherziehung ohne Betreuung in jene Institutionen gesperrt, in welche man sonst gefährliche Menschen versorgte, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Das Abstruse dieser Argumentation wird einem klar, wenn man sich bewusst wird, was dies praktisch bedeutete. Ich war 17 Jahre alt und erwartete ein Baby, das ich mir gewünscht hatte und das ich auch austragen wollte. Deswegen wurde ich zum Schutz von Mutter und Kind 12 Monate lang mit Mörderinnen und auch Kindesmörderinnen inhaftiert. Das Zynische an diesem Vorgehen war, dass eine Frau, die ihr Kind abtrieb, mit einer 3-Monatigen Strafe (aStGB), und eine, die ihr Neugeborenes umbrachte, mit ca. 7 Monaten (aStGB) davon kam. Eine junge Frau hingegen, die ihr Kind aufziehen wollte, wurde mindestens 12 Monate lang nach (aZGB 283 oder 284) oder gar auf unbestimmte Zeit weggesperrt! Damit wurde uns von den Behörden klar gemacht, dass wir als Jugendliche nur verlieren konnten, egal wie wir es anpackten.

Kurzbiografie:
Ursula Müller-Biondi (18. 12. 1949) - Ungeachtet ihres sozialen und beruflichen Erfolges liess sie das Handicap, einmal im Leben in Hindelbank/BE eingesessen zu haben, ihr Leben lang nie mehr los. Von 2000-2002 arbeitete sie ihre traumatischen Erlebnisse aus ihrer Jugendzeit, sexueller Missbrauch, Freiheitsentzug und Kindswegnahme in Begleitung therapeutischer Hilfe, in einem persönlichen Buch "Geboren in Zürich - Ursula Biondi" auf. Anfangs 2008 gründete sie die Anlaufstelle "Administrativ-Versorgte 1942-1981" und seit dem 1. Oktober 2011 ist sie Mitgründerin des Vereins "RAVIA" (Rehabilitierung der administrativ Versorgten - Réhabilitation des internés administratifs).

Die moralische Rehabilitierung vom 10. September 2010 durch Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und Vertreter der Kantone war der grosse Durchbruch. Heute kämpft sie weiter zusammen mit anderen Betroffenen, die - wie sie selber - systemgeschädigt sind, um eine gesetzliche Rehabilitierung für administrativ Versorgte 1942-1981. Eine breit abgestützte parlamentarische Initiative, die ein Gesetz zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten verlangt, wurde von der Rechtskommission am 21. Oktober 2011 angenommen. Der Vorstoss wird vom Parlament voraussichtlich im 2. Quartal 2012 behandelt.

Buch
Geboren in Zürich – eine Lebensgeschichte
Ursula Biondi, Cornelia Goethe Literaturverlag, 2003/2010
Als Tochter eines italienischen Vaters und einer Schweizer Mutter, welche mit der Heirat das Bürgerrecht verlor, erlebte Ursula Biondi eine glückliche Kindheit in Zürich. Durch das damals strenge Einbürgerungsverfahren, dem konservativen Zeitgeist, den Ressentiments gegenüber den Gastarbeitern aus Italien und einer ersten Jugendliebe gerät ihre Welt aus den Fugen. Sie flüchtet mit einem Freund nach Italien, wird dort von ihm schwanger, von der Polizei aufgegriffen und in die Schweiz zurückgeschickt. Mit 17 Jahren wird sie ohne juristisches Verfahren in die Frauenstrafanstalt Hindelbank eingeliefert, wo sie dann mit 17 ½ Jahren ein gesundes Baby zur Welt bringt, das die Behörden am liebsten zur Adoption freigeben möchten. Ursula weigert sich wiederholt. Nach etwas mehr als einem Jahr kommt sie frei. Mit grosser Entschlossenheit kämpft sie fortan für ein würdiges Leben, Bildung und eine berufliche Karriere. 2010 gelingt es ihr zusammen mit anderen Frauen, die ebenfalls administrativ-versorgt worden waren, vom Bundesrat und zwei Regierungsräten eine offizielle Entschuldigung für das erlittene Unrecht zu erwirken.