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Jean François Millet, 1814-1875

Poe, Bernhard, Balzac, Swift

Jean François Millet hat wie kein anderer europäischer Künstler die Landarbeit zum zentralen Thema seiner Kunst gemacht. Themen sind Mähen, Schafscheren, Holzspalten, Kartoffeln lesen, Grabe, Schafe hüten, Düngen Pfropfen. In manchen Bildern hielt er die unerbittliche Härte der bäuerlichen Lebenswelt fest. Auch Momente der Erschöpfung: ein Mann mit Hacke stützt sich ab, streckt seinen Rücken, Die Heuer liegen wie hingeworfen im Schatten, ein Mann im Weinberg hockt zusammengekauert auf der ausgetrockneten Erde. Weil diese Bilder einmalig waren, wurden sie in grossem Ausmass reproduziert und zierten unzählige Wohnstuben. Nicht Teil dieser Bilderwelt waren jedoch die Verdingkinder. Damals fehlte abgesehen von wenigen Einzelnen das Bewusstsein für das noch grössere Elend.

Die Getreideschwinger waren 1848 sein erster Ausstellungserfolg. Was hat Millet dazu gebracht, sich für ein so neuartiges Sujet zu entscheiden? Dass er die bäuerliche Arbeitswelt malte, kann man nicht damit allein erklären, dass er aus einer normannischen Bauernfamilie stammt, und, als er jung war, selber mitarbeitete. Die in den Jahren 1848 bis 1851 erweckten und unterdrückten Hoffnungen begründeten in ihm, wie in vielen anderen, die Forderung nach Demokratie, nach Menschenrechten. Der diesen Forderungen adäquate künstlerische Stil war der Realismus: weil er verborgene gesellschaftliche Gegebenheiten aufdeckte. Sein Anliegen war, zu zeigen, unter welchen Bedingungen die französischen Bauern lebten. Sie machten damals zwei Drittel der Bevölkerung aus. Erst 1789 aus der feudalen Leibeigenschaft befreit wurden sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts Opfer des „freien Flusses“ des Kapitals. Was die französischen Bauern jährlich an Pacht- und Hypothekarzinsen zu zahlen hatten, entsprach dem Jahreszins der Staatsschuld Grossbritanniens, dem damals reichsten Land der Welt. Der grösste Teil des Publikums, das sich seine Bilder im Salon in Paris ansah, hatte keine Ahnung von der krassen Armut auf dem Lande. Im Gegensatz zu Albert Anker hat er die bäuerliche Welt nicht sentimentalisiert oder romantisiert. Ihm war bewusst, dass die Bauern zu einem brutalen Dasein verurteilt waren, speziell die Männer.

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Die Reaktionen auf seine Bilder waren sehr komplex. Für manche wurde er zum sozialistischen Revolutionär. Von den Linken mit Enthusiasmus, von den Rechten und der Mitte mit empörtem Grauen. Angst machten diesen die fünf Millionen Bauern, welche ihr Land verloren hatten und nun in die Städte drifteten: Sie sehen aus wie Mörder, sind Kretins, Bestien, aber keine Menschen, degeneriert. Und nachdem sie all das gesagt hatten, beschuldigten sie Millet, solche Figuren erfunden zu haben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Millets Originale von alten Millionären in Amerika gekauft. Und Millet war van Goghs erwählter Meister, geistig und künstlerisch. Van Gogh malte Dutzende von Gemälden, die sich eng an die Radierungen seines Vorbilds hielten.

Kurzfassung von Walter Zwahlen aus „Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, John Berger, Wagenbach Verlag, 1998

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