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Interview mit Heidi Meichtry

Nachdem über Jahrhunderte das Thema Verdingkinder in der Öffentlichkeit mit wenigen Ausnahmen tabu war, begann vor gut sieben Jahren durch parlamentarische Vorstösse und die Präsenz in den Medien eine Entwicklung, die sich heute sehen lässt. Weil die erste Vereinigung Betroffener dabei wichtig war, hat der Verein netzwerk-verdingt der ehemaligen Präsidentin von „Verdingkinder suchen ihre Spur" dazu Fragen gestellt.

Gratwegs ins Entlebuch

n-w: Die Vereinigung „Verdingkinder suchen ihre Spur“ und später „Heim- und Verdingkinder suchen ihre Spur“ war die erste deutschschweizerische Organisation ehemaliger Verdingkinder und damit eine Bewegung, die viele Dinge ins Rollen gebracht hat. Was wurde erreicht, verpasst?

H.M: Aus der Vereinigung heraus entstanden dann die verschiedenen Regionalgruppen. In der besten Zeit waren das deren acht (8): Stadt Zürich, Zürich Unterland, Zürcher Oberland, Baden, Basel, Bern, Berner Oberland und Luzern

Begonnen hat die Vereinigung mit dem ersten Kongress der ehemaligen Verdingkinder vom 28. November 2004 in Glattbrugg ZH. Zu diesem Kongress kamen rund 120 Personen. Er kam folgendermassen zustande: Die Journalistin, Gisela Widmer, publizierte einen umfangreichen Artikel im Tages-Anzeiger-Magazin. Ich schrieb ihr daraufhin ein kurzes Mail. Zur gleichen Zeit erschienen in Radio und TV verschiedene Sendungen zum Thema Verdingkinder durch die Historiker Loretta Seglias, Marco Leuenberger und Thomas Huonker. Die HörerInnen und ZuschauerInnen reagierten zuhauf. Und die Forscher/Historiker erhielten über 300 Briefe.

Marco Leuenberger kontaktierte mich telefonisch und teilte mir mit, dass er eine kleine Liste mit sechs Adressen machen möchte, ob ich bereit sei, darauf zu fungieren. Nach Erhalt dieser Liste setzte ich mich mit den anderen fünf Personen in Verbindung. Aus wenigen Treffen entstand die Idee des Kongresses, den ich zusammen mit Theresia Rohr und den Historikern organisierte und durchführte.

An dieser Tagung legten wir Fragebogen zum Lebenslauf für die ehemals Verdingten sowie Anmeldeformulare zum Beitritt für eine neu zu gründende Vereinigung auf.

Diese Tagung haben wir wieder in Zusammenarbeit mit den Historikern in einem Tagungsbericht dokumentiert (das Taschenbuch kann immer noch bei Dr. Thomas Huonker gekauft werden!). Im Anhang ist die Auswertung des an der Tagung aufliegenden Fragebogens zu finden.

Der Druck und die Auswertung des Fragebogens durch eine Soziologin kosteten über Fr. 10'000.-, dafür musste ich als Präsidentin und Geschäftsstellenleiterin Spendengelder generieren.

An der Tagung kam immer sehr drängend wieder das Problem der Aktensuche zur Sprache, so dass ich beschloss, sollte die Vereinigung zustande kommen, einen Leitfaden dafür zu erarbeiten. Dieses Projekt nahm ich 2005 in Angriff! Ich hatte das Glück, dass zwei Rechtsanwälte unentgeltlich ihre Hilfe anboten. Wir arbeiteten zusammen einen Fragebogen aus, denn wir allen Kantonen sandten. Der Rücklauf klappte zum Glück zu 100%. Meine Idee war, diese Antworten dann in einem Ordner als Leitfaden für die Aktensuchenden zur Verfügung zu stellen. Da die Antworten aber derart unterschiedlich ausfielen, musste ich eine andere Lösung finden. Es wurde ein einheitlicher Raster erstellt, damit die Antworten übersichtlich dargestellt werden konnten. Diese Arbeit führte die Historikerin Loretta Seglias. Erneut musste ich dafür Spendengelder suchen! Diese Auswertung liegt seit damals in zwei Varianten vor: ein Ordner in Papierversion und eine CD. Beide liegen übrigens auch an der Wandausstellung „Verdingkinder reden“ auf.

Erreicht haben wir damit, dass das Thema „Verdingkinder“ in den Medien sehr viel präsenter wurde und viele ehemals Verdingten die Möglichkeit bekamen, ihr Schicksal öffentlich zu machen.

Ich denke nicht, dass „etwas verpasst“ wurde von unserer Seite, verpasst hat es vielmehr die Politik, eine Anlaufstelle für die ehemaligen Verdingkinder zu schaffen. Der Bedarf einer solchen war durch unsere unentgeltlich geleistete Arbeit mehr als ausgewiesen.

n-w: Leider existiert diese Organisation nicht mehr, und auch die Zahl der regionalen Gruppen ist inzwischen stark geschrumpft. Du warst bis vor anderthalb Jahren bis zur Liquidation die Präsidentin dieser deutschschweizerischen Vereinigung. Was ist aus dieser Arbeit geblieben?

H.M: Geblieben ist auch der Tagungsbericht vom ersten Kongress der Verdingten vom 28. November 2004 (siehe oben!).

Geblieben ist auch die Auswertung der Kantonsumfrage zum Problem der Aktensuche.

Ausserdem habe ich alle Vereinsakten akribisch aufbereitet und dem Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich übergeben. Ich erhielt sogar ein Dankesschreiben dafür!

Aus der ehemaligen Berner-Regionalgruppe ist Eure Nachfolgeorganisation „netzwerk-verdingt“ entstanden, dafür bin ich sehr dankbar und froh!

n-w: Das schwierige Amt, das Du von 2005 – 2009 innehattest, war durch enorm viel Arbeit geprägt. Eine grosse Zahl der ehemaligen Verdingkinder hoffte auf schnelle Resultate und wiegte sich in unrealistischen Ansprüchen. Die Frustrationen hast vor allem Du abgekriegt. Wie sieht deine persönliche Bilanz aus der Distanz heute aus!

H.M: Ich habe Übelstes erlebt! Von der einfachen Diffamierung über Rufmord bis zu Gerichtsverhandlungen, die ich jedoch unbeschadet überstand! Eines der harmloseren Beispiele: Ein ehemaliges Vorstandsmitglied meldete hinter meinem Rücken unserem Steueramt, ich würde als Präsidentin und Geschäftsstellenleiterin der Vereinigung recht viel verdienen und dieses Einkommen gewiss nicht versteuern. Ich musste Beglaubigungen durch einen Rechtsanwalt und durch meinen Treuhänder erstellen lassen. Der Rechtsanwalt arbeitete liebenswürdigerweise wieder unentgeltlich für mich, den Treuhänder aber musste ich aus der eigenen Tasche bezahlen!

Frisch operiert, nach einer sehr schweren Operation erhielt ich im Spital einen Gerichtsentscheid von einer Gerichtsverhandlung, von welcher ich nicht einmal wusste, dass sie stattfand, ich wurde aber freigesprochen. Mein Mann war völlig aufgelöst, als er mir einen Gerichtsentscheid ins Spital brachte.

Könnte ich nochmals zurück, würde ich den Kongress vom November 2004 organisieren und dann den Betroffenen sagen: Ich habe euch jetzt eine Plattform geschaffen, macht selber etwas daraus!

n-w: Nachdem es einige Zeit ziemlich düster aussah, sieht es inzwischen durch zahlreiche positive Entwicklungen und die wiederholte Präsenz des Themas Verdingkinder wieder besser aus. Was erhoffst Du dir noch?

H.M: Für mich persönlich hoffe ich, dass ich dank des SRK-Suchdienstes endlich das letzte Puzzleteil zu meines Vaters (Verdingkind) Biografie finden kann. Durch die Staatsarchivare der Kantone Schwyz und Zug, fand ich Vieles heraus, aber die Antwort, ob mein Vater, wie mir jemand im Verlauf meiner Recherchen sagte, tatsächlich ein Priesterkind war, fand ich noch nicht, weil sich seine Heimatgemeinde gar nicht kooperativ verhält. Die Aktensuche wurde auch dadurch erschwert, weil mein Vater in Menton/Frankreich geboren war.

Ausserdem wünsche ich mir, dass am ehemaligen Armenhaus, in welchem mein Vater aufwachsen musste, bevor er als Verdingbub zum Grossbauern kam, eine Gedenktafel für all die in diesem Haus Misshandelten angebracht wird.

Für alle ehemals Verdingten und ihre Nachkommen erhoffe ich mir endlich eine offizielle Entschuldigung der Eidgenossenschaft, der Kantone und Gemeinden.

Ausserdem erhoffe ich mir, dass ein Fonds geäufnet wird, damit ehemaligen Verdingkindern, in schlechten finanziellen Verhältnissen wirtschaftlich geholfen werden kann. Dieser Fonds sollte auch notwendige Psychotherapien bei ehemals Verdingten finanzieren helfen.

Die Interview-Fragen stellte Walter Zwahlen