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Weisheit im Märchen

Weisheit im Märchen

In manchen Märchen der Völker ist Armut ein wichtiges Thema, und die Sorgen und Nöte der armen Bevölkerung kommt zur Sprache. Eltern, welche die vielen Kinder nicht ernähren können und nicht mehr weiter wissen. Sie deshalb in fremde Dienste schicken oder sie schweren Herzens in die Fremde weisen, damit sie auf gut Glück hoffend ihr eigenes Leben verdienen sollen. Manchen Kindern sterben plötzlich die Eltern weg und sie stehen mittellos als Waisen da. Andere bekommen als Halbwaisen eine böse Stiefmutter. Oder gegenüber dem armen Bruder ist der reiche unbarmherzig und verweigert ihm die Hilfe. Arme Mädchen und Knaben müssen Vieh hüten, erhalten keine Bildung und oft kärgliches Essen, ohne dass sich jemand ihres Schicksal erbarmt.

In diesen alten Geschichten und Überlieferungen wird eine Erzähltradition lebendig, welche die Nöte und Sorgen der Minderbemittelten gewürdigt wird. Neben den harten und unbarmherzigen Zeitgenossen gibt es stets auch Verständige, Mitfühlende, Ratwissende und selbstlose Helfer. Einzelnen gelingt es, die Not der Geplagten zu mindern, ihr Schicksal zu wenden oder sie auf einen Weg in eine bessere Zukunft zu führen. Diese vielfältigen Dokumente beweisen, dass es möglich ist, möglich gewesen wäre, Hilfe zu leisten. Es sind wichtige Texte der gelebten Solidarität im Alltag gegen Egoismus, Geiz, Neid und Kälte. Zugleich sind es Gleichnisse, welche der Gesellschaft den Spiegel vorhalten: Ihr könntet auch anders, wenn ihr wolltet!

Das unverdiente Kleid
Es war einmal eine Mann und eine Frau, die hatten eine Tochter. Sie waren so arm, ärmer geht es gar nicht. Bei der Mutter ging es ans Sterben, und da der Vater nicht genug Arbeit hatte, um seine Tochter bei sich zu behalten, musste er sich von ihr trennen. Er schickte sie fort, sich ihr Brot selber zu erbetteln.
Eines Tages kam sie vor eine Tür:
„Übt Barmherzigkeit, um Gottes Liebe Willen!“
„Du bist so gross und stark, mein Kind, und du bettelst dein Brot?“
„Leider, es muss wohl so sein. Meine Mutter ist gestorben und mein Vater hat keine Arbeit, um mich daheim zu beschäftigen zu können; und so musste ich gehen.“
„Nun gut, wir brauchen eine Magd. Wenn du also hierbleiben willst und gut arbeitest, behalten wir dich.“
„Ach, mit Freuden“, sagte das Mädchen. „gern will ich bleiben.“ Und bei den Leuten blieb sie.
Sie war fleissig und von gutem Benehmen, so dass sie sie gern hatten. Und da das arme Kind fast unbekleidet war, kaufte ihr die Herrin ein Kleid. Sie streckte ihr das Geld vor, das sich die Kleine verdienen sollte. Aber bald danach wurde die Magd krank. Ihr Leiden wurde von einem Tag auf den anderen schlimmer, bis sie endlich starb. Als sie tot war, war es plötzlich um das Kleid leid, das sie ihr gekauft hatte. „Das Mädchen ist jetzt tot! Und jetzt stehe ich mit dem Kleid da, das sie sich nicht einmal verdient hatte!“ Und so weiter, sie hörte nicht auf zu brummen.
Am übernächsten Tag aber zeigte sich wieder ein Mädchen an ihrer Tür: „Braucht Ihr nicht zufällig eine Magd? Ihr würdet mir einen grossen Gefallen tun, wenn Ihr mich beschäftigen könntet."
„Doch Mädchen, du kommst gerade recht. Wir hatten nämlich eine, die gerade starb, und an ihrer Stelle werden wir dich nehmen. Noch dazu glich sie dir aufs Haar! Man würde meinen, du seist mit ihr verwandt.“
Und so blieb sie also in diesem Haus. Sie war genau das, was sie brauchten und hatten ihr nichts vorzuwerfen. Was sie aber überraschte, war, dass sie sie weder essen noch trinken sahen, weder bei Tisch noch sonst. Und jeden Abend, wenn alle zu Bette gingen, kniete sie sich neben das Feuer und betete zu Gott. Nun war in diesem Hause auch ein Knecht. Er hatte bemerkt, dass das Holz, das er nach seinem Tagewerk für den nächsten Tag hackte, am Morgen fast ganz verschwunden war, und er wollte wissen, wovon das käme. Eines Abends tat er so, als ginge er zu Bett. In Wirklichkeit aber spähte er durch ein Loch in seiner Zimmertür. Als sich alle ausser der Magd hingelegt hatten, sah er, wie sie einen grossen Arm voll Holz holte, es in den Herd legte und anzündete. Dann zog sie ihre Kleider aus und fing an, über dem Feuer zu tanzen. Sie hüpfte von einer Seite auf die andere, mitten durch die Flamme durch, ohne auch nur einen Augenblick zu unterbrechen oder die geringste Klage hören zu lassen. Und so ging es dahin, bis das Feuer erlosch. Es war ein schreckliches Schauspiel, und am nächsten Tag nahm der Knecht die Herrin zur Seite. „Wüsstet Ihr nur, was ich gestern gesehen habe!“ Und er erzählte ihr alles, wie ihm auffiel, dass Holz fehlte und wie er die Magd beobachtet hatte und was er dabei gesehen habe. Die Herrin konnte sich vor Schreck kaum noch fassen. Sofort rief sie das Mädchen zu sich und sagte ihr, was der Knecht ihr gerade berichtet hatte. Sie fragte sie, ob es stimme, und warum sie das, womit man sie überrascht hatte, täte.
„Ja, das stimmt“, sagte sie. „Das ist meine Busse. Ihr habt eine Magd gehabt, die hier gestorben ist. Und diese Magd bin ich. Ihr habt mir von dem Geld, das ich hätte verdienen sollen, ein Kleid gekauft, aber seither habt ihr es bereut. Ihr habt es mir zum Vorwurf gemacht und gesagt, dass ich es keineswegs verdient habe. Deshalb musste ich auf die Erde zurückkommen und kann nicht eher ins Paradies zurück, solange Ihr mir nicht sagt, dass ich mein Kleid verdient habe.“
„Du armes Kind“ antwortete die Frau ganz bekümmert, „vergib mir, was ich gesagt habe! Du hast dein Kleid verdient, und zwar wohl verdient! Du kannst gehen, wenn du willst: Ich werde dir nichts mehr vorwerfen.“
Und sobald sie diese Worte gesprochen hatte, verschwand das Mädchen.



Aus Provenzalische Märchen, Eugen Diederichs Verlag 1983