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Interview mit Dr. med. Heinrich Kläui

Fremdplatzierung und Verdingung als Freipass für Willkür: Behörden und Pflegeeltern waren sich oft in der Einstufung der fremdplatzierten Mündel einig. Zucht und harte Arbeit als Mittel der Disziplinierung waren die Norm. Es gab weder eine schriftliche Vereinbarung noch eine Kontrolle für die Umsetzung der drakonischen Mittel. Damit wurde der Handlungsspielraum unausgesprochen auf körperliche und seelische Misshandlung und Missbrauch erweitert. Isolation, Einsperren, Nahrungsentzug, Einschüchterung, wiederholte schwere, körperliche Strafen und Ausbeutung erlitten die Verdingkinder, ohne dass ein Ende absehbar war. Durch die Zuweisung von Kindern an dafür ungeeignete Pflegeeltern, sowie das Unterlassen der Aufsichts- und  Kontrollpflicht machten sich die Behörden mitverantwortlich für die schweren und schwersten Menschenrechtsverletzungen. Die Mehrheit der ehemaligen Verdingkinder berichtet denn auch von systematischer Gewalt über mehrere Jahre hinweg. Einige erlebten richtige Gewaltexzesse, die der Definition der Folter und ihren Methoden entsprechen. Schwerste Traumatisierung, physische und psychische Leiden und schmerzhafte Rückerinnerungen prägen das Leben von vielen ehemaligen Verdingkindern.

Heinrich Kläui

n-v: Sie sind in Ihrer Haupttätigkeit Hausarzt in einer eigenen Praxis. Was war der Anlass, dass Sie sich mit Folteropfern zu befassen begannen?

H.K.: Ich habe lange in Spitälern gearbeitet, zuerst 6 Jahre als Assistenzarzt und dann 5 Jahre als Oberarzt. In der Poliklinik in Genf hatte ich relativ viel mit Flüchtlingen und MigrantInnen zu tun, dabei tauchte auch das Thema Folter auf. Als ich die eigene Arztpraxis zusammen mit einer Kollegin eröffnete, waren wir beide auch für das Durchgangszentrum für Asylsuchende Halenbrücke bei Bern tätig. Sie für Frauen und Kinder, ich für die Männer. Ende 1995 wurde das Ambulatorium für Folteropfer des Roten Kreuzes in Bern eröffnet, und 1996 wurde die Stelle des Konsiliararztes dort frei, für die seither ich in Teilzeit tätig bin. Das Leiden von Menschen hat mich immer berührt, deshalb versuchte ich, so weit wie es medizinisch möglich ist, diesen Menschen beizustehen, damit sie im Leben besser zurechtkommen.

n-v: Ziel der Folter ist, die Persönlichkeit der Opfer zu zerstören. Der Hass des Täters und seine Rolle als Unmensch führen zu bleibenden, oft auch irreparablen physischen und psychischen Schäden. Gibt es für die Opfer nach einer solchen Tortur überhaupt noch Hoffnung?

H.K.: Hoffnung besteht auf jeden Fall. Zum Einen weil nicht alle traumatisierten Opfer zwingend schwer krank werden. Das belegen die Zahlen. Weiter verfügt der einzelne Mensch über innere Kräfte, die es ihm ermöglichen, sich zur Wehr zu setzen, mit der Situation irgendwie fertig zu werden. Der Traumaforscher, Professor Hilarion Petzold, zum Beispiel erklärt dies aus der Tatsache, dass die Menschheit schon immer mit Kriegen und Katastrophen konfrontiert war, die sie irgendwie bewältigen musste. Er sagt, der Mensch sei evolutionsbiologisch gut ausgerüstet, um Traumata zu verarbeiten. Manchmal sind die Traumata jedoch zu massiv, vor allem bei langanhaltenden Traumatisierungen, und der Mensch erkrankt seelisch. Es besteht für den einzelnen Mensch trotz einem schweren Schicksal immer eine Chance, wieder in ein einigermassen lebbares Gleichgewicht zu kommen. Die psychische Verletzung und Traumatisierung jedoch wird nicht vergessen.

n-v: Wie finden ehemalige Folteropfer aus der massiven Traumatisierung heraus?

H.K.: Zwei Dinge sind wichtig: Es gibt kein Allheilmittel. Aber verschiedene Wege und und geeignete Momente. Ganz unterschiedlich ist die persönliche Strategie, welche ein Folteropfer wählt, um aus der Traumatisierung herauszufinden: Arbeit, Karriere, Selbständigkeit, Flucht, Emigration, künstlerisches Schaffen. Hintergrund ist immer der Wunsch nach einem neuen Leben, nach der Normalität, zum Beispiel eine Familie. Oft ist auch das Bedürfnis stark, das Erlebte zu verdrängen. In kritischen Momenten aber kommen die Schrecken wieder hoch. Bei Krankheit, Trennung oder Scheidung vom Ehepartner und Arbeitsplatzverlust kann sie die Vergangenheit wieder einholen. Hier können wir echt Hilfe leisten, dass im besten Fall die Krise überwunden wird.

n-v: Was ist Ihre persönliche Mission neben der Tätigkeit als Arzt in dieser Disziplin?

H.K.: Wie eingangs erwähnt ist es die Auseinandersetzung und  Berührung durch das Leiden dieser Menschen. Zentral ist aber auch die Bewusstseinsbildung. Darüber zu informieren, dass es Leute in unserer Gesellschaft gibt, die ein anderes, manchmal schreckliches Schicksal haben. Die Öffentlichkeit muss dies wahrnehmen und Bescheid darüber wissen. Im Sinne der Mission des Roten Kreuzes, sich für die Schwächsten unter uns einzusetzen, die ohne Hilfe sonst untergehen würden.

Interview: Walter Zwahlen

Folter
Folter dient dazu den Willen und die Persönlichkeit des Opfers zu brechen. Ziel der Folter ist auch der Angriff auf die grundlegenden Bindungen, die Zerstörung des Urvertrauens, des Sicherheits-, Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl (Schutz, Identität, soziales Netz), sowie den Lebens- und Gerechtigkeitssinn (Menschenwürde).

Definition:
Damit von Folter gesprochen werden kann, müssen die nachfolgenden Bedingungen erfüllt sein:
Vorsätzlichkeit
Das Zufügen schwerer physischer und psychischer Schmerzen und Leiden
Angehörige des öffentlichen Dienstes oder in amtlicher Eigenschaft handelnd
Gewaltanwendung auf Veranlassung, mit ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis der Behörden
Nach dem geltenden Völkerrecht ist die grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung jedoch verboten.

Die Foltermethoden:
Schwächung von Körper und Seele durch physische und psychische Gewalt und Auslösung von Schmerzen
Abhängigkeit und Demütigung durch willkürliche Regeln, die jede Form von Bestrafung erlauben, das Ausgeliefertsein und die Hilflosigkeit verstärken bis zur totalen Unterordnung
Massive Einschüchterung durch Angst und Schmerz
Verwirren durch Desorientierung und Irrationalität der angewandten Methoden
Durch Entzug von Wasser, Nahrung, Schlaf. Verweigerung von medizinischer Behandlung und Medikation. Durch Zensur, Einsperren und Isolation

Folterfolgen:
Körperliche Folterfolgen: Bewegungsapparat, Frakturen, Rücken-, Muskelschmerzen, Narben, Nervenschmerzen, Kopfschmerzen, Hirnschädigung, Magen- und Darmbeschwerden, Atembeschwerden, Tuberkulose, Kreislaufstörungen
Psychische Folterfolgen: Flashbacks/Rückerinnerung, Albträume, Ängste, Übersteigerte Wachheit, Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, Nervosität, Anspannung, Konzentrationsstörungen, Isolation, Rückzug, Depression

Curriculum vitae Dr. med. Heinrich Kläui
Geboren 1950 in Basel, Schulen in Riehen und Basel, Studium in Basel und Zürich 1969-1975, Abschluss  mit einer medizinhistorischen Dissertation. Assistentenjahre in Fribourg, Winterthur, CHUV  Lausanne und  Universitätsspital Zürich. Oberarzt am Kantonsspital Liestal und  an der Policlinique médicale universitaire Genève . Praxiseröffnung (hausärztliche Doppelpraxis) 1992 in 3012 Bern.
Konsiliararzt am Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK seit 1996; Fokusperson Medizin am Departement Gesundheit und Integration SRK seit 2009.
Vorträge und Publikationen zu den Themen Diversität und transkulturelle Kompetenz in der hausärztlichen Praxis, Migrationsmedizin, Psychotraumatologie und chronische Schmerzerkrankungen.
Diverse Mitgliedschaften, u.a Mitglied Medical Anthropology Switzerland MAS ( eine Fachkommission der Schweizerischen Ethnologischen Gesellschaft), Vorstandsmitglied des Vereins Berner Hausärztinnen und Hausärzte, Mitglied der Kommission Psychiatrie der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern, Vorstandsmitglied des Berner Bündnis gegen Depression.