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Jeremias Gotthelf

Jeremias Gotthelf

Jeremias Gotthelf (im Bild links als junger Mann) ist in seinem Wirken und Schaffen als Pfarrer und Autor einzigartig. Seine Zivilcourage und sein Kampf gegen Armut und Ausbeutung im 19. Jahrhundert bewirkten zwar Verbesserungen, er aber blieb ein angefeindeter Einzelkämpfer. Seine Werke hatten zuerst vor allem in Deutschland Erfolg. Einige wurden im 20. Jahrhundert von Franz Schnyder verfilmt. Leider aber der Bauernspiegel mit der Kritik am Verdingkinderunwesen nie. Die zeitgeschichtliche und literarisch-politische Bedeutung Gotthelfs hat Peter von Matt treffend charakterisiert und gewürdigt.

Kindheit und Jugend: Gotthelf wurde als Albert Bitzius am 4. Oktober 1797 in Murten als Sohn des reformierten Pfarrers Sigmund Bitzius und seiner dritten Frau Elisabeth Bitzius-Kohler geboren. In Utzenstorf, wo der Vater seit 1805 tätig war und den Sohn selber unterrichtete, lernte Albert die bäuerliche Welt des Unteremmentals kennen.

Ausbildung: 1817 begann er das ordentliche Theologiestudium in Bern, welches er 1820 abschloss.1821 setzte es das Studium in Göttingen für ein Jahr fort. 1824 starb sein Vater und Bitzius wurde Pfarrverweser in Herzogenbuchsee. 1829 kam er als Pfarrgehilfe nach Bern an die Heiliggeistkirche. 1831 wechselte er als Vikar in die Pfarrei Lützelflüh im Emmental, wo er ein Jahr später zum Pfarrer gewählt wurde.

Das Wirken in Lützelflüh: Schon bald setzte er sich für die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht ein. Pädagogisch stand er in der Tradition Johann Heinrich Pestalozzis. Er kämpfte gegen die Ausbeutung der Kinder aus armen Familien als billige Arbeitskräfte. Dies geisselte er im Bauerspiegel, welcher 1937 erschien. 1835 wurde Bitzius zum Schulinspektor für die 18 Schulen der Gemeinden Lützelflüh, Rüegsau, Hasle und Oberburg gewählt. Nach zehn Jahren wurde er aus diesem Amt wegen politischer Differenzen mit der Regierung entlassen. Ebenfalls 1835 war er massgeblich an der Gründung der Armenerziehungsanstalt Trachselwald im Schlossgut Trachselwald beteiligt. Bis zu seinem Tod setzte er sich dafür ein. In der Schrift Die Armennot (1840 erschienen) verarbeitete er die gemachten Erfahrungen. Zunehmend engagierte er sich auch politisch und kritisierte die herrschenden Berner Familien, die sich seiner Ansicht nach zu wenig um die sozial Schwachen kümmerten.

Der Schriftsteller: 1836 begann Gotthelf seine Karriere als Autor. Sein erster Roman war Der Bauernspiegel. Der Name der Hauptfigur aus diesem Werk wurde zugleich der Schriftstellername von Bitzius: Jeremias Gotthelf. In den folgenden Jahren ist er unermüdlich als Schriftsteller tätig und veröffentlicht Romane, Erzählungen, teilweise zeitgenössisch, teilweise historisch, und Aufsätze. 1851 bricht ein Hals- und Herzleiden mit Wassersucht aus. Er starb am 22. Oktober 1854 an einem Schlaganfall.

Bedeutung und Nachwirkung: Seine Romane spiegeln in einem zum Teil erschreckenden Realismus das bäuerliche Leben im 19. Jahrhundert. Mit wenigen starken, wuchtigen Worten konnte er Menschen und Landschaften beschreiben. Gotthelf verstand es wie kein anderer Schriftsteller seiner Zeit, die christlichen und die humanistischen Forderungen in seinem Werk zu verarbeiten.

Peter von Matt

Aus „Tintenblaue Eidgenossen“, Peter von Matt, Hanser Verlag, 2001
Gotthelf der Diagnostiker unserer Bosheit

Gotthelf, der Polemiker, war in der Schweiz weithin verhasst. Noch über den Tod hinaus. Selbst das Grab hat man ihm geschändet, aus Wut, aus Rache, als Zeichen des Triumphs über den politischen Gegner. Solange er lebte, war er ein Splitter im Fleisch der Nation. Gotthelf gilt als der literarische Albert Anker. Diese Vorstellung ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, obwohl zwischen dem Autor und dem dämoniefreien Maler ein Unterschied besteht wie zwischen den Niagarafällen und einem Karpfenteich. Der Schleier Albert Anker – diese strickenden Mädchen! und diese Schulbuben mit ihren Schiefertafeln! – übt eine klare Funktion aus. Er verdeckt alles, was bei Gotthelf stören, ihn aus der Reservat einer stubenwarmen Vergangenheit hervorbrechen und als furchtbar gegenwärtig erscheinen lassen könnte.

Die Reden von der Niedertracht
Denn furchtbar ist er, furchtbar in seiner Rede von den Menschen, furchtbar in der Diagnose ihrer Niedertracht, ihrer Kälte, ihrer steinharten Bosheit. Kein deutscher Autor hat es bis heute gewagt, die menschliche Bosheit, die sich gelassen an sich selbst erfreut, so deutlich als eine schlichte Wirklichkeit hinzustellen wie Gotthelf. Schurken und Schufte gibt es zwar überall in der Literatur. Bilderbuch-Bösewichter wie Lessings Marinelli oder Schillers Franz Moor im 18. Jahrhundert, wie Koeppens Judejahn, Hochhuts Doktor oder Christa Wolfs Achill im 20. Jahrhundert. Aber sie sind meistens pädagogische Anfertigungen, aus dem Gegensatz zur Norm des guten Menschen heraus konstruierte Negativexempel, über die man sich problemlos empören kann. Bei Gotthelf empört man sich erst mit der Zeit. Zuerst erschrickt man, dann graust einem, man beginnt leibhaftig zu frieren und ertappt sich schliesslich dabei, wie man das Buch weglegt, um von der Szene fortzukommen. Diese Figuren sind nicht Reproduktionen des Teufels in einer säkularisierten Welt, keine mythologischen Zitate, sonder ganz gewöhnliche, alltägliche Menschen, nur ganz heimtückisch und perfid.

Der Schuft am Fenster
Demgegenüber jener Bauer im „Bauernspiegel“, der den Vater des Erzählers langsam ins Unheil treibt und immer vergnügt dabei ist und vergnügt zusieht, wie eine ganze Familie zugrunde geht. Der Vater verliert beim Holzen beide Beine und stirbt. Der Bauer führt sein schandbares Werk an der vaterlosen Familie weiter und beraubt sie in kurzen, raschen Aktionen des gesamten verbliebenen Besitzes. Die Kinder werden auf entfernte Verwandt verteilt oder als billige Arbeitskräfte an den Meistbietenden öffentlich verkauft. Der Typus dieses Bauern aus dem „Bauernspiegel“, kalt, klug, schadenfroh, erscheint immer neu in den Romanen und Erzählungen.

Die Demokratisierung des Bösen
Die grösste Leistung Gotthelfs in der Analyse der Herzenskälte liegt in der Aufdeckung dessen, was man die vernetzte Bosheit nennt. Es gibt zwei, drei Männer, die entschieden und gezielt korrupt sind, aber sie können nichts ausrichten, wenn nicht alle Ämter und Beamteten, Gemeinderäte und Ausschüsse und Delegierte, und schliesslich auch die regionale Regierung, das Spiel mitspielten oder doch zuliessen. Viele von ihnen sehen, dass da eine verlassene Frau mit einer Schar kleiner Kinder verraten und bestohlen wird. Sie sehen, wie das Unrecht zu Recht gemacht wird, mit viel juristischem Papier und roten Stempeln drauf. In diesen Geschichten von der vernetzten Bosheit unterläuft Gotthelf die idealistische Vorstellung, dass das Böse stets auf den einzelnen beschränkt sei. Alle haben ihren Anteil dara; niemand ist allein schuld: jeder kann sagen, er habe das nicht gewollt, er habe ja nur zugeschaut , habe zwar nicht dagegengeredet, aber dagegenzureden auch keinen Anlass gehabt; es hätte ja auch nichts genützt, und man hätte es ihm nur falsch ausgelegt. Wen Gotthelf auf die Abläufe der vernetzten Bosheit kommt, zeigt er sie als ein Geschehen, dem fast kein Widerstand entgegengebracht wird. Wie die Menschen gemeinsam, in nachbarschaftlichem Einverständnis und ohne Schuldgefühl die subtilste Perfidie betreiben.

Kinderelend
Illustration: Ein Bauer vermittelt Kinder als Arbeitskräfte an einen Fabrikherren.