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Interview mit Jeannette Fischer

Die Psychoanalytikerin und Filmschaffende Jeannette Fischer zeigte Anfang November 2010 im Verein netzwerk-verdingt Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm „Lisa und Yvonne“, welcher auf das Schicksal eines Verdingkindes und ihrer Tochter eingeht. Dazu erläuterte sie jeweils die diversen legitimen Schutzverhalten als Kind bei der Fremdplatzierung. Netzwerk-verdingt hat sie zur Thematik befragt.

n-v: Du bist seit 30 Jahren als selbständige Psychoanalytikerin in Zürich tätig. Wie kamst Du dazu, Dich mit der Verdingkinder-Thematik zu beschäftigen?

J.F: Ich habe immer wieder unter meinen Patienten Töchter/Söhne ehemaliger Verdingkinder. Da begann mich das Thema immer mehr zu interessieren, dabei stiess ich auf das Nationalfondsprojekt unter Ueli Mäder mit Loretta Seglias und Marco Leuenberger. Ich habe alle getroffen und mit ihnen gesprochen. Da reifte bei mir den Entschluss, das Thema filmisch zu dokumentieren.

n-v: Neben Deiner Haupttätigkeit warst Du in den letzten 1 ½ Jahren zusammen mit Jens-Peter Rövekamp bei der Produktion des Dokumentarfilms „Lisa und Yvonne“ aktiv. Wie kam es dazu? Und was ist Deine Motivation?

J.F: Seit nunmehr zwei Jahren bin ich zusammen mit Jens-Peter Rövekamp am Film "Lisa und Yvonne". Loretta Seglias und Marco Leuenberger haben mich vor drei Jahren angefragt, fünf Interviews im Rahmen des Nationalfondsprojektes mit Video durchzuführen. Dabei lernte ich Lisa Götz und ihre Tochter Yvonne Götz kennen. Gleichzeitig entschied ich mich, die Thematik, wie ein Trauma ungewollt und unbewusst in die nächste Generation fliesst, filmisch ersichtlich zu machen, damit sie einem grösseren Publikum zugänglich wird. Ein Fachbuch kann dies nicht in diesem Ausmass. Darüber hinaus soll der Film auch für uns alle eine Identifikationsmöglichkeit bieten als Töchter und Söhne, als Mütter und Väter - die wir alle das Phänomen des Weitertragens von Erfahrungen in die nächste Generation kennen, handle es sich um traumatisierende Erfahrungen oder nicht. Meine Motivation ist das Aufzeigen auf eine nicht vorwurfsvolle und schuldzuweisende Art, wie etwas an die folgende Generation weitergegeben wird. Gleichzeitig soll uns dieses Erkennen versöhnlich machen gegenüber unseren Nächsten und uns selber, da das Weitergeben unabdingbar ist.

n-v: Du vertrittst die Forderung, dass sich die offizielle Schweiz gegenüber den ehemaligen Verdingkindern entschuldigen müsse. Kannst Du das näher erläutern hat?

J.F: Das soziale Gewebe der Verdingkinder wurde zerstört und damit das Vertrauen in die menschliche Beziehung in ihren Grundstrukturen zutiefst erschüttert. Die Kinder wurden entpersonalisiert, sie entbehrten der Anerkennung als Individuum und wurden in die Dienste der Interessen Anderer instrumentalisiert. Wir irren, gehen wir davon aus, dass das Trauma mit dem Ende der traumatischen Situation abgeschlossen ist. Die strukturelle Zerstörung des Vertrauens in Beziehung bleibt bestehen, und die Problematik wird transgenerationell. Erfahrenes Leid kann nicht wieder gut gemacht werden. Die Wiederholung der Ohnmachts- und Insuffizienzgefühle aber, der alltägliche Kampf, die eigene Person immer wieder zusammen setzen zu müssen, diese Wiederholung kann aufgehoben werden, indem individualpsychologisch und sozialpolitisch Raum geschaffen wird für die Anerkennung der erlittenen Zerstörung, und damit das Recht auf Trauer und Verzweiflung erst möglich wird. Für ein Opfer ist es von grösserer Bedeutung Raum und Anerkennung für das Leid zu erhalten, als die Bestrafung der Täter zu fordern.
Eine öffentliche Anerkennung der Wahrheit und der Unschuld der Verdingkinder, ihre Entstigmatisierung, ermöglichen deren Genesung und auch die ihrer Nachkommen, sowie uns allen einen lebendigen und verantwortungsvollen Demokratisierungsprozess, weil Raum geschaffen wird für soziale Erinnerung, für die Auseinandersetzung mit Vergangenheit, um gemeinsam Zukunft neu zu gestalten.

n-v: Was erhoffst Du Dir von Eurem Dokumentarfilm, der in den kommenden Monaten ins Kino kommt?

J.F: Der Film wird voraussichtlich im Frühling 2011 ins Kino kommen. Ich erhoffe mir Nachdenklichkeit, Versöhnlichkeit, Verstehen und vor allem das Brechen des Schweigens in der Folgegeneration. Ich erhoffe mir das "Reden darüber".

Interview: Walter Zwahlen

Kurzbiografie Jeannette Fischer:

1954: geboren in Baden CH
1977 – 80: Studium der vergleichenden Religionswissenschaften an den Universitäten Athen und Tübingen
1980 – 86: Mitbegründerin und Präsidentin der Genossenschaftspraxis Aussersihl 1: medizinisch-soziale Quartierversorgung in Zürich, Redaktorin der Wochenzeitung „Leserzeitung CH“
1981 – 86: Ausbildung am Psychoanalytischen Seminar Zürich in Freudscher Psychoanalyse
1986 – dato: eigene Praxis in Zürich
1992 – 94: Co-Leitung des Psychoanalytischen Seminars Zürich und Dozentin am Seminar
1999 – 2010: Zahlreiche Ausstellungen, Videos, Publikationen, Performances

In Arbeit:
• Dokumentarfilm: Lisa und Yvonne
• Buch: Neuinterpretation des Sisyphusmythos